Zu den Themen, die die Schule nicht loslassen, gehört die Frage der Absenzen. Eigentlich ist die Sache klar geregelt: «Die Schülerinnen und Schüler sind verpflichtet, in den obligatorischen und den von ihnen gewählten Fächern sowie an den übrigen obligatorischen Schulveranstaltungen teilzunehmen», heisst es im Paragraf 17 des Mittelschulgesetzes. In den Paragrafen 22 und 23 der Mittelschulverordnung wird der Umgang mit Abwesenheiten geregelt. Wo liegt das Problem? – Im Paragraf 22 werden Gründe aufgezählt. Dazu gehören etwa Unfälle, Aufgebote des Militärs, Zugsverspätungen oder hohe Feiertage, wie es in einer früher gültigen Aufzählung hiess. Andere Punkte sind nicht so eindeutig, etwa der Hinweis auf «aussergewöhnliche Ereignisse im persönlichen Umfeld» oder «andere von der Schulleitung im Einzelfall anerkannte besondere Umstände». Diese Formulierungen zeugen von der Einsicht des Gesetzgebers, dass die Dinge des Lebens manchmal kompliziert sein können. So ist die Zusammenführung einer in alle Welt zerstreuten Familie, die lange Anreisen erfordert, etwas Besonderes. Ebenso ein aussergewöhnliches sportliches Engagement, zu dem auch Wettkämpfe gehören, oder schwierige Familiensituationen, die kreative Lösungen erfordern. Auch der in den Ausnahmen genannte Grund «Krankheit» ist schillernd, wo etwa auch psychisches Leid anerkannt wird. Wir als Schulleitung bemühen uns, dem Einzelfall gerecht zu werden und möglichst viele Aspekte zu berücksichtigen – immer auch mit Blick auf die schwierigen Fragen der Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung von Ungleichem. Wir bemühen uns auch zu unterscheiden, wo die Absenz als solche das Problem darstellt und wo sie Symptom für etwas anderes ist – etwa für Schwierigkeiten im Elternhaus oder Drogenkonsum.
Absenzen werden oft nicht auf diese nüchterne Art angeschaut, die Diskussion können schnell emotional werden. Das hat mehrere Gründe: Nicht selten handelt es sich um ein Kommunikationsproblem. Eine Schülerin kommt in letzter Minute mit einem Anliegen, ein Schüler entschuldigt sich flapsig, Eltern treten unnötig forsch auf. Hier wären der richtige Ton, eine vorausschauende Planung, eine Entschuldigung im richtigen Moment oft hilfreicher als Grundsatzdiskussionen über Sinn und Unsinn der Absenzenregeln. – Unklar ist bisweilen, wie die Erarbeitung des Versäumten aussehen soll. Vor allem im Zusammenhang mit Prüfungen kann das auch eine juristisch heikle Sache werden. Hier sind pragmatische Lösungen, originelle Ideen und Kompromisse gefragt. – Und noch ein dritter Punkt: Wir Lehrpersonen tendieren dazu, Absenzen persönlich zu nehmen. Als würden uns die fehlende Schülerin sagen wollen: ‘Wenn Ihr Unterricht besser wäre, würde ich nicht fehlen.’ Als wäre das Fehlen eine absichtlich zugefügte narzisstische Kränkung. Solche Empfindlichkeiten führen in meiner Beobachtung bisweilen zu unnötigen Verwicklungen, ein Schritt zurück würde allen guttun.
Das Thema muss aber auch noch zu anderen Überlegungen einladen: Was bedeutet es, dass die Teilnahme am Unterricht verpflichtend ist, angesichts neuer Unterrichtsformen? Die Vorstellungen von Unterricht und Lernen, die hinter den erwähnten Reglementen stehen, stammen aus einer Zeit, als Unterricht an Präsenz gebunden war und die Lehrperson einer Klasse etwas vermittelte, was man verpasste, wenn man nicht anwesend war. Wo an Projekten gearbeitet wird, die man auf einen bestimmten Termin fertigstellen muss, und wo die physische Präsenz eine andere Qualität hat als beim Klassenunterricht, bedeutet auch Absenz etwas anderes. Das sieht man leicht bei der Maturaarbeit. Niemanden kümmert es, wann daran gearbeitet wird; relevant ist einzig, wie die Besprechungen verlaufen und was am Ende vorliegt. Entwickelt sich Unterricht zumindest tendenziell in diese Richtung, so muss es auch erlaubt sein zu fragen, was das für die Präsenz heisst. Sicher, es stellen sich juristische Fragen im Zusammenhang mit der Aufsichtspflicht – vor allem bei jüngeren Schüler:innen –, aber diese sind anderer Natur als die Verpflichtung, im Klassenzimmer einem geführten Unterricht zu folgen, vor allem wenn sich dieser entlang eines Skripts bewegt. Gleichzeitig hat uns Corona gelehrt, wie wichtig die gemeinsame Begegnung ist, etwa das ergebnisoffene Gespräch über einen literarischen Text. Die Möglichkeit dieser gemeinsamen Auseinandersetzung muss auch geschützt werden gegen die eindimensionale Vorstellung von Schule als Stoffvermittlung.
Die KUE hat vor einiger Zeit eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um auf diese Fragen zeitgemässe Antworten zu finden. Zugegeben, wir haben das Ei des Kolumbus noch nicht gefunden, aber wir sind auf der Suche danach.
Jürg Berthold
WB_23_04