Mutig, nicht perfekt!
Fällt es dir schwer, bei Gruppenarbeiten die Kontrolle abzugeben oder Aufgaben zu delegieren, weil du klare Vorstellungen hast? Glaubst du, dass du dich in der Schule mehr engagierst als andere? Versuchst du oft, zu beeindrucken und bist frustriert, wenn du deine eigenen Erwartungen nicht erfüllst? Oder schiebst du Aufgaben sogar auf, weil du nicht weisst, wie du sie bestmöglich erledigen kannst? – Solche Fragen dienen dazu, Perfektionismus bestmöglich zu identifizieren.
Perfektionismus ist ein vielschichtiges Persönlichkeitsmerkmal, bei dem man sehr hohe Ansprüche an sich selbst und/oder andere stellt. In der Schule wird dieses Merkmal oft mit guten Noten belohnt. Strenge Selbstkritik und das Streben nach Fehlerlosigkeit können bei den Betroffenen aber auch Stress, Ängste und ein geringes Selbstwertgefühl auslösen. Kurz: Perfektionismus ist auch der Stress, nicht gut genug zu sein – ein Gefühl, das ich selbst sehr gut kenne.
Aus der psychologischen Forschung ist bekannt, dass Perfektionismus auch mit demografischen Faktoren wie Geschlecht, Alter und sozioökonomischem Status der Familie zusammenhängt.1 Hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigt sich, dass Mädchen in der Schule eher perfektionistisch eingestellt sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um selbstbezogene und gesellschaftlich auferlegte Ansprüche handelt.2 Bereits in der Kita erhalten Mädchen grundsätzlich weniger Lob. Lehrpersonen schenken ihnen weniger Aufmerksamkeit und unterbrechen sie häufiger.3 Diese Erfahrungen können dazu führen, dass weiblich sozialisierte Menschen häufiger höhere Ansprüche an sich selbst entwickeln, was sich zwar nicht selten in sehr guten schulischen Leistungen niederschlägt und sowohl Kinder, Eltern als auch die Lehrerschaft freut, langfristig aber auch hemmen kann. Ein Beispiel aus der Arbeitswelt illustriert, was diese Dynamiken für Auswirkungen auf ihre Zukunft haben kann: Wiederholt zitierte Erfahrungsberichte deuten darauf hin, dass sich Männer bereits auf Stellen bewerben, wenn sie nur einen Teil der geforderten Qualifikationen erfüllen. Frauen hingegen bewerben sich oft erst dann, wenn sie davon fast 100 Prozent erfüllen.4 Der Anspruch, perfekt sein zu müssen und nicht zu scheitern, hemmt sie bereits auf den ersten Metern der Jobsuche.
Die Schule ist für mich ein Raum, in dem Mädchen die Möglichkeit haben sollten, sich von solch eingefahrenen Glaubenssätzen und vom Perfektionismus zu lösen.
Schülerinnen können sich zum Beispiel fragen, warum und für wen sie nach überdurchschnittlich guten Leistungen streben. Insbesondere dann, wenn sie unter dem Druck leiden. Warum nicht einmal ganz bewusst bei einem Projekt ein Thema oder eine Methode wählen, bei der man weiss, dass sie einem nicht liegt? Oder statt einer langen Entschuldigung für ein Versäumnis einfach nur für den Hinweis darauf danken? Ab und zu die Erwartungen nicht zu erfüllen, mag unangenehm sein und braucht eine ganze Portion Mut, es kann aber auch befreiend wirken.
Lehrpersonen sollten ihre Erwartungen an Schülerinnen regelmässig auf mögliche Geschlechterstereotype hin kontrollieren. Studien zeigen, dass Lehrkräfte Knaben oft höhere Fähigkeiten in logischem Denken zuschreiben, obwohl dies nicht der Fall ist. Im Wissen darum, dass Lehrer:innen Hochbegabung bei Mädchen seltener erkennen und fördern, 5 sollten sie ihren Schüler:innen umso mehr zutrauen, Fehler machen zu dürfen oder auch mal minimalistisch zu sein, ohne gleich Zweifel an ihren Fähigkeiten zu signalisieren.
Gleichzeitig können vor allem weibliche Lehrkräfte selbst Vorbilder sein, indem sie die Erwartungen, die von aussen, aber auch von ihnen selbst an sie gestellt werden, auch einmal nicht erfüllen und dies – und das ist ganz wichtig – auch offen so kommunizieren.
Ich zum Beispiel wollte diesen Wochenbrief eigentlich zum Thema «Klimaangst und Umwelttrauer im Klassenzimmer» schreiben. Doch trotz der Lektüre diverser Studien und Bücher fehlte mir am Ende ironischerweise der Mut, meine Gedanken dazu hier mitzuteilen. Aber hey, nobody's perfect ;-)
Annalena Jäger, Geografielehrerin
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