Wo liegt Beutelsbach?

Wie neutral muss eine Lehrperson sein? Kann sie das überhaupt? Gedanken dazu im aktuellen Wochenbrief.

«Darf ich als Lehrperson Sticker auf dem Laptop haben?», fragte mich neulich eine Kollegin. Selbstverständlich waren nicht Kleber von Feriendestinationen gemeint. Hintergrund der Frage war, dass die Kollegin von ihrer Praktikumslehrperson an einer anderen Schule darauf hingewiesen worden war, dass sie ihre Sticker entfernen solle.  

Meines Wissens gibt es dazu wie in vielen Bereichen des Schulfeldes keine klare gesetzliche Regelung. Umso spannender, aber auch umso wichtiger ist die Diskussion darüber. In der Öffentlichkeit wird immer wieder suggeriert, Lehrpersonen seien nicht «neutral» und sich ihres Einflusses zu wenig bewusst. Das macht deutlich, dass eine Klärung wichtig ist.  

Auf die Frage gibt es zunächst eine pragmatische Antwort: Wer sich als Lehrperson auf das plakative Bekenntnis eines Stickers festlegt, läuft Gefahr, dass alles, was man sagt, verzerrt wird. Auch unbestrittene Themen werden dann einer bestimmten Position zugeschrieben und relativiert. Dass man zwischen Wetter und Klima unterscheidet, ist nicht erst wichtig, seit die Erderwärmung auf der politischen Agenda steht.  

Ein Vorort des schwäbischen Weinstadt bei Stuttgart, Beutelsbach, steht seit 1976 für eine prinzipiellere Antwort. Der sogenannte Beutelsbacher Konsens der badenwürttembergischen Landeszentrale für Politische Bildung, im Nachgang zu den 68er-Umbrüchen im Bildungswesen ausgehandelt, legt drei Gebote fest, an denen sich eine Lehrperson orientieren soll. Da ist etwa das Indoktrinierungsverbot: Lehrpersonen dürfen Schüler:innen nicht zu bekehren versuchen – zu was auch immer. Durch den Unterricht sollen die Schüler:innen vielmehr selbst mündig werden und lernen, sich eine eigene Meinung zu erarbeiten. Darauf bezieht sich auch das zweite Gebot der Kontroversität: Eine Lehrperson muss ein Thema kontrovers darstellen, wenn es in der Wissenschaft oder in der Politik kontrovers behandelt wird. Dieses Gebot schliesst nicht aus, dass eine Lehrperson sich innerhalb dieses Spektrums positionieren kann. – Das Gebot der Schülerorientiertheit bezieht sich auf das Anliegen, dass die Schüler:innen sich im Sinne ihrer Ansichten und Interessen an den politischen Prozessen zu beteiligen lernen sollen.  

Das alles ist in der Umsetzung alles andere als einfach: Wie weit reicht das politische Spektrum, das noch abgebildet werden muss? Wie klein kann die Minderheitenmeinung innerhalb der Scientific Community sein, dass man sie noch zu Wort kommen lassen soll? Wie verträgt sich das Indoktrinierungsgebot mit der Pflicht der Lehrpersonen, in bestimmten Situationen, wie sie etwa der KUE-Kodex im Auge hat, Farbe zu bekennen? – Wegen solcher und ähnlicher Fragen hat es in den letzten 50 Jahren immer wieder Diskussionen um die Auslegung der Gebote und ergänzende Formulierungen gegeben, so etwa wie Frankfurter Erklärung aus dem Jahre 2015. 

Im Rahmen der Umsetzung der neuen Maturitätsanerkennungsverordnung wird uns diese spannungsvolle Problematik noch beschäftigen. Die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist als Lehr- und Lernbereich neu sehr explizit gefordert. In all ihren Aspekten, wie sie in den 17 UNO-Nachhaltigkeitszielen formuliert sind, führt das auf schwieriges Terrain. Wie die Maturitätsverordnung im Kanton Zürich interpretiert und wie sie an der KUE umgesetzt werden wird, muss sich in den kommenden zwei, drei Jahren herausstellen.  

Und wie ist das jetzt mit dem Sticker? Das überlasse ich den Leser:innen dieses Textes – ganz im Sinne der Forderung, als Lehrperson, die ich auch bin, zur politischen Bildung beizutragen. 

Jürg Berthold 

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