Aus dem Autoradio ertönte mächtig Beethovens 9. Symphonie, 4. Satz. Die Begeisterung der pathetischen Musik ergriff auch mich. Dann setzten die Gesangsstimmen ein. Voller Inbrunst sangen sie den Satz, der mich in dieser Situation – ich war auf dem Weg in die Ferien - voll traf: „Alle Menschen werden Brüder!“
Nein, das kann man doch heute nicht mehr so sagen! Brüder?! Wo bleiben die Frauen und alle anderen Varianten geschlechtlicher Identitäten oder Fluiditäten?
Und doch: Was für eine schöne Vision, die Friedrich Schiller formuliert und Beethoven in Musik gesetzt hat! Dass Menschen sich verbinden, sich verstehen und sich gegenseitig geschwisterlich tragen (und gelegentlich ertragen), muss doch ein allgemeines Ziel sein – auch an unserer Schule. In diesem Sinn heisse ich die KUE-Angehörigen im neuen Schuljahr willkommen! Ich hoffe, dass sich alle wohlfühlen und viele schöne Erfahrungen machen können, sei es in der Auseinandersetzung mit fachlichen Fragen oder im alltäglichen Zusammenleben mit Kolleginnen und Kollegen.
Schillers „Brüder“ hallten in mir während der Sommerferien immer wieder nach. So nahm ich plötzlich auch den jugendsprachlichen Ausdruck „Bro“ bewusster wahr. Ein „Bro“ (von englisch „Brother) ist der Kumpel, der Typ, den man mag und mit dem man sich verbunden fühlt. „Bro“ ist eine Auszeichnung für Auserwählte.
Es ist normal, dass man nicht mit allen gleich gut auskommt. Wenn aber die Auswahl der Freunde gleichzeitig zu einem aktiven Ausschluss von anderen führt, ist es ungut. Wir wissen es zur Genüge aus Medienberichten (auch während der Sommerferien in der NZZ): Jugendliche können einzelne Gleichaltrige ganz hart ausgrenzen.
(Cyber-)Mobbing, Bullying, Plagereien haben wir leider auch schon an der KUE erlebt, und zwar häufiger, als man annehmen möchte. Diese Fälle machen betroffen. Dass Jugendliche an unserer Schule unter respektlosem Verhalten von rücksichtslosen Kolleginnen und Kollegen leiden, kann nicht einfach so hingenommen werden.
Aus diesem Grund haben wir uns in der Schulleitung entschieden, im neuen Schuljahr einen Schwerpunkt zu setzen. Ausgrenzungen aller Art sind nicht akzeptabel. Es darf nicht sein, dass sich jemand auf Kosten anderer profiliert. Alle, die an der KUE ein und aus gehen, sollen Konflikte nicht hinterlistig-feige, sondern im Gespräch austragen. Daran wollen wir noch stärker arbeiten.
Durch diesen Schwerpunkt und die Aktionen, die wir damit verbinden, werden nicht alle KUE-Angehörigen „Brüder“ werden. Aber wer an der KUE lernt, lehrt, arbeitet, soll mit seinen jeweiligen Eigenheiten angenommen werden. Gegenseitiger Respekt muss die Leitschnur unseres Handelns sein.
Martin Zimmermann
Wochenbrief_2334