Uetikon, 1944. Der Fabrikdirektor und seine Frau laden die Belegschaft auf einen Ausflug ein. Ziel ist das Rütli. Mit einer patriotischen Feier sollen alle geeint werden, um gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Die Chemiefabrik muss die Chancen der Nachkriegszeit nutzen. Dazu gehören aber nicht nur geschäftliche Überlegungen, sondern auch gesellschaftliche. Wie kann man das gemeinsame Leben im Dorf gestalten, damit alle an einem gemeinsamen Strang ziehen? Wie positioniert sich die Schweiz im Europa der Zukunft?
Der Betriebsausflug bringt dann die eine oder andere Überraschung. Nicht nur die Reden, die von verschiedenen Personen gehalten werden, verlaufen anders, als es sich der Fabrikdirektor vorgestellt hat.
Diese Geschichte erzählt Rolf Käppeli im Roman «Vom Ende einer Rütlifahrt», der in diesem Jahr im Gmeiner Verlag erschienen ist und den ich zur Lektüre sehr gerne empfehle.
Der Standort der Fabrik heisst allerdings im Roman nicht Uetikon, sondern Rustikon. In der Vorbemerkung schreibt Rolf Käppeli mit der üblichen Formel, dass «Übereinstimmungen mit realen Tatsachen, Orten oder Personen rein zufällig» seien. Es ist aber klar, dass Käppelis Ausgangspunkt die Chemiefabrik ist, die für unsere Schule so wichtig ist – das CU-Areal nämlich, dieses «verheissene Land», auf das wir hinarbeiten.
Ein Kapitel des Romans hat es mir besonders angetan. Nach der Rede des Fabrikdirektors darf die Kindergärtnerin auf der Handorgel etwas vortragen. Die engagierte junge Frau ist im Dorf bekannt und auch umstritten, weil sie neue Unterrichts- und Erziehungsformen vertritt. Der Fabrikdirektor reagiert deshalb nervös, als sie nach dem musikalischen Vortrag zu reden beginnt.
In der Tat hinterfragt die Kindergärtnerin keck den Text der Nationalhymne: «Was genau die fromme Seele ahnt, ist vielen von uns nicht klar, wenn wir das vaterländische Lied singen», sagt sie.
Als neuen Text schlägt die junge Frau eine leicht adaptierte Version der Kinderhymne von Bertolt Brecht vor, die sie zur Melodie des Beresina-Lieds vorträgt. Die letzte Strophe lautet:
Und weil wir dieses Land ererbten,
mögen und erneuern wir’s.
Gar das liebste mag’s uns scheinen
so wie andern Leuten ihr’s.
Diese Art von Patriotismus gefällt nicht allen Teilnehmern des Betriebsausflugs. Die Kindergärtnerin erntet zwar grossen Jubel, aber auch Skepsis.
Für uns als zukünftige Schule auf dem Areal der ehemaligen Chemiefabrik hat die Strophe aber eine sehr schöne Botschaft. Ja, wir werden dieses Landstück gerne übernehmen und erneuern, und zwar mit Sorgfalt, Liebe und viel Engagement.
Martin Zimmermann
Wochenbrief_2137