In einer Lektion im Bildnerischen Gestalten, die ich neulich besuchte, töpferten die Schüler:innen eigene Krüge und lernten anhand von Beispielobjekten auch verschiedene Techniken der Verarbeitung von Ton kennen, Drehkeramik, Pinch- und Aufbautechnik. Auch über eine berühmte Vertreterin des Keramikkunsthandwerks informierte die Lehrerin: Maguerite Friedländer-Wildenhain studierte am Bauhaus, legte 1926 als erste Frau in Deutschland die Meisterprüfung als Keramikerin ab und leitete bis 1933 die Keramikabteilung an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle an der Saale. Sie orientierte sich in ihrer klaren Formensprache am Bauhaus-Stil, blieb aber vor allem in der zweiten Hälfte ihres Lebens für andere Impulse offen. Ihre Entwürfe machten sie weltberühmt und werden bis heute produziert. Als Jüdin musste sie 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ins Exil gehen, zunächst nach Holland und dann in die USA. Dort gründete sie in den 50er-Jahren die «Pond Farm Pottery», eine eigene Keramikwerkstatt, in der sie in den Kursen ihrer Summer School Keramiker:innen ausbildete.
Marguerite Friedländer war Perfektionistin im Handwerk und zugleich Künstlerin. Ihr Unterricht stellte die grundlegende Bedeutung einer souveränen handwerklichen Meisterschaft ins Zentrum. Diese bildete für sie eine selbstverständliche und unverzichtbare Basis künstlerisch-gestalterischen Schaffens. Ihre Studierenden berichten in der Dokumentation «Marguerite: From the Bauhaus to Pond Farm», dass sie 15 Grundformen vorgab, deren Herstellung an der Drehscheibe alle Studierenden lernen mussten. Sie fertigten Dutzende von Exemplaren genau dieser Schalen, Töpfe und Krüge an, und zwar so lange, bis sie während des Töpferns nicht mehr darüber nachdenken mussten, was sie taten. Friedländer verlangte die Formen in höchster Präzision. Sie pflegte zu sagen: «A millimeter makes a difference.» Ausgehend von diesen Basisformen lernten die Studierenden dann, ihren eigenen Stil zu finden und ihre eigenen Kunstwerke zu entwickeln.
Im Zusammenhang mit Bildung werden Gefässe oft als Bild für das Abfüllen von Wissen genutzt, ein Klassiker ist der «Rucksack», den die Schüler:innen während ihrer Schulzeit mit Wissen füllen. Ganz anders das Bild im Fall des pädagogischen Ansatzes Marguerite Friedländers: Hier steht die Form des Gefässes und die perfekte Herstellung dieser Form als Bild für das Erlernen von Grundlagen. Dieses tritt mir nun oft vor Augen, wenn ich über die Frage nachdenke, über welche Kompetenzen unsere Schüler:innen verfügen, wenn sie – wie nun bald unsere Maturand:innen – das Gymnasium verlassen.
Was sind in den unterschiedlichen Fächern die Töpfe, Krüge, Kannen, die sie – ohne nachzudenken – «anfertigen» können? Als Deutschlehrerin erkenne ich zum Beispiel als einen «Topf» in meinem Fach: anspruchsvolle Texte lesen – nicht ohne nachzudenken, aber ohne dass das Lesen eine Hürde bildet. Von welcher Basis können die Schüler:innen ausgehen und ihre «Kunst», ihr Wissen, weiterentwickeln? Welche Fertigkeiten geben wir ihnen in einer ähnlichen Qualität wie von Friedländer gefordert mit? Und verlangen wir mit dem nötigen Nachdruck, dass diese Basis vorhanden sein muss?
Die Anforderungen, die an die gymnasiale Ausbildung gestellt werden, sind hoch, z.B. laut MAR: «Maturandinnen und Maturanden sind fähig …d. logisch zu denken und zu abstrahieren; e. intuitiv, analog und vernetzt zu denken». Vielleicht lohnt es sich, die «Töpfe» verstärkt in den Blick zu nehmen, um diese Anforderungen zu erreichen.
Eugenie Bopp
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