Sicher ist nicht alles wahr, was man sich von ihm erzählt. Und was man von ihm weiss, ist nicht alles positiv. Gemeint ist Mithridates VI. (ca. 132 bis 63 vor Chr.), der das riesige Reich Pontos in Kleinasien regierte. Glaubt man den Berichten, so soll er mit allen Völkern, die er beherrschte, in deren Sprache gesprochen haben. Das ist der Grund, warum er über die Jahrhunderte zum Inbegriff der Mehrsprachigkeit wurde. Gemäss einzelnen Quellen soll er fast 50 Sprachen gesprochen haben. Der Zürcher humanistische Universalgelehrte Conrad Gessner benannte seine sprachwissenschaftliche Studie nach ihm (Mithridates. De differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sunt. 1555). Und Jürgen Trabant, deutscher Sprachwissenschafter, schrieb ein wunderbares Buch über die Mehrsprachigkeit mit dem Titel «Mithridates im Paradies» (2003).
Warum muss man neben Englisch überhaupt noch eine andere Sprache lernen? Das ist eine Frage, die nicht nur von Schülerseite, sondern auch von Eltern immer wieder gestellt wird. Der Untertitel von Trabants Buch, «Kleine Geschichte des Sprachendenkens», gibt einen Hinweis auf eine mögliche Antwort. Der Grund für die Frage ist klar: Sehr oft reicht Englisch vollkommen aus, um sich zu verständigen. Es ist ja auch eine wunderbare Sache, wie man sich in der Fremde bewegen und an vielen Orten verständigen kann. Englisch nicht nur als Sprache der Wissenschaften, sondern auch als Sprache der Globalisierung ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Immer wieder bin ich verblüfft, wenn ich Schülerinnen und Schüler selbstverständlich und flink Englisch parlieren höre, nicht nur im Unterricht, sondern auch in den Pausen – und zwar einfach so zum Spass. «Weil es cool ist», antwortete mir jemand auf eine entsprechende Frage neulich. Globish, zu deutsch Globalesisch, ist die leicht abschätzige Bezeichnung für ein Englisch, das sich in den letzten dreissig Jahren intensiv verbreitet und andere Sprachen in den Hintergrund gedrängt hat. Sicher, es gibt nicht das eine Englisch; gerade bei dieser Sprache ist klar, dass sie in ganz unterschiedlichen Varietäten existiert, weil es eben nicht nur in Oxford und New York, sondern auch in Neuseeland und Indien gesprochen wird. Trotzdem ist auch diese Sprache nur bedingt immun gegen so viele Sprecher, die sich ihrer als Fremdsprache und rein instrumentell bedienen.
Mit «Sprachendenken» betont Trabant den Umstand, dass Sprache mehr ist als ein kommunikatives Tool. Die Art und Weise, wie wir in der Welt sind, wie wir denken und fühlen, ist abhängig davon, in welcher Sprache oder welchen Sprachen wir zu Hause sind. Immer, wenn wir bei einer Übersetzung hängenbleiben, kann uns das bewusst werden. Das wird an einfachsten Beispielen klar, zum Beispiel am Wort «pane». Sicher, das heisst «Brot». Aber was bedeutet das in Italien? Woran denken wir Deutschschweizer dabei? Woran eine Französin oder ein Inder? Brot ist nicht einfach Brot. Nie habe ich das Ringen um die beste Übersetzung so eindrücklich erfahren wie bei einem Workshop im Übersetzerhaus Looren, jenem wunderbaren Zentrum der Mehrsprachigkeit am Bachtel, wo Literatur-Übersetzer:innen aus aller Welt an ihren Projekten arbeiten - hier beschrieben von einer Schülerin im Rahmen des FAZ-Projekts "Jugend schreibt".
Deshalb sind Wochen wie diese, umsichtig vorbereitet und durchgeführt von der Italienischlehrerin Ruth Rump und ihren Klassen, so wichtig. Es gab Poster, die die Südschweiz nahebrachten, die mehr ist als das Tessin. Es gab selbstgemachte Amaretti und vieles mehr, zum Beispiel Luganighette, von Daniel Ritz und Nikola Jovanov auf dem Grill zubereitet. Das ist wichtig für die viersprachige Schweiz und das Verständnis ihrer Diversität. Eine solche Woche ist aber mehr als Folklore. Sie schärft das Bewusstsein, dass Sprachen mehr sind als Verständigungstools, dass wir in ihnen zu Hause sind.
Jürg Berthold
Wochenbrief_21_47