Man müsse in den Schulen vermehrt die gleichen Bücher lesen, sagt der Schriftsteller Lukas Bärfuss in seiner neuen Essay-Sammlung («Die Krone der Schöpfung», Wallstein Verlag 2020). Sonst gehe der gemeinsame Bestand an Geschichten verloren, jene Erzählungen, die uns als Gesellschaft verbinden.
Die Gymnasien sollen sich an einem Kanon orientieren. Man denkt unwillkürlich an Goethe, an die grosse Literatur.
In eine ähnliche Richtung wies kürzlich der Pädagogikprofessor Roland Reichenbach in einem Interview mit der NZZ: «Warum sollte man die Namen der wichtigsten Flüsse, Seen und Berge der Schweiz, der europäischen Hauptstädte oder einiger Knochen des menschlichen Skeletts nicht mehr auswendig lernen?»
Selbstverständlich stimme ich Bärfuss und Reichenbach zu. Wir arbeiten in der Schule an einem gemeinsamen Fundus, und auch in einer digitalisierten Schule braucht es Grundwissen, das man einfach mit Fleiss lernen muss.
Aber die Sache ist eben doch auch noch etwas komplizierter.
Nehmen wir Goethes «Faust», der auch heute noch in vielen Klassen gelesen wird. Da geht es um einen Mann mit grossem Wissensdrang, der eine junge Frau verführt und ins Verderben stürzt. Natürlich kann man die Handlung weniger salopp zusammenfassen, aber dass man Faust aus heutiger Sicht einen „alten, weissen Mann“ nennen kann, der unkorrekt mit Frauen umgeht, ist wohl unbestritten. Faust als Vorbild ist fragwürdig geworden.
Auch Fausts unbändiger Wissensdrang und sein Versuch, die Welt zu beherrschen, haben heute einen schalen Beigeschmack, weil der technische Fortschritt auch riesige Schwierigkeiten gebracht hat. Ich denke nicht nur an die Klimakrise, sondern auch an Probleme, die durch die digitalen Möglichkeiten entstehen. Selbstverständlich bleibt Goethes „Faust“ ein faszinierendes Werk, aber als Orientierungspunkt kann er nicht mehr gleich dienen, wie das etwa im 19. Jahrhundert der Fall war. Das weiss auch Bärfuss, er fordert deshalb eine Verständigung über solche Texte und Erzählungen. Das wird nicht ohne Auseinandersetzung über Grundwerte gehen.
Auch zum „Auswendiglernen“, das Reichenbach propagiert, stellen sich Fragen. Welches sind denn die wichtigsten Flüsse, Seen und Berge der Schweiz? Und weshalb sind nicht auch Städte und Regionen auf anderen Kontinenten wichtig, jene zum Beispiel, in denen die Waren produziert werden, die wir konsumieren?
Wenn Reichenbach im erwähnten NZZ-Interview fordert, die Schülerinnen müssten wissen, wann der 2. Weltkrieg begonnen hat und wann er beendet wurde, bin ich einverstanden. Aber wer diese Daten kennt, weiss noch nichts über den Krieg, seine Ursachen und seine Folgen. Ohne dieses Wissen sind die blossen Daten noch wenig wert. Um zum Beispiel die Stellung der Schweiz zwischen 1939 und 1945 zu beschreiben, braucht es einerseits Kenntnisse über die historische Forschung, aber es wird auch nicht ohne politische Wertungen gehen.
Bärfuss und Reichenbach weisen auf eine wichtige Funktion der Schule hin. Diese muss nämlich einen gemeinsamen Boden für die Gesellschaft schaffen. Aber mit den Mitteln der beiden letzten Jahrhunderte schaffen wir das nicht. Es gilt, einen neuen vebindenden Kanon und ein verbindliches Grundwissen zu bestimmen, die im 21. Jahrhundert Gültigkeit haben können. Das ist letztlich eine politische Diskussion, der sich die Schule und die Behörden stellen müssen.
Martin Zimmermann
Wochenbrief_2111