Unmittelbar vor den Notenkonferenzen stiess es vielen Lehrpersonen sauer auf, dass einzelne Schüler:innen um Noten zu verhandeln begannen oder Eltern aus der Ferne auf den letzten Metern für ihre Kinder etwas rauszuholen versuchten. Sicher, wo etwas übersehen oder falsch bewertet wurde, muss man sich melden, und es wird selbstverständlich korrigiert. Aber diese Art des Feilschens («Runden Sie mir auf, wenn ich noch einen Kurzvortrag mache?» oder «Könnten Sie diese Prüfung nicht einfach streichen?») ist unangemessen und hat etwas Unwürdiges – für alle Beteiligten. Jetzt, am Semesteranfang, grundsätzlicher über Noten nachzudenken bietet sich an: Es finden noch kaum Prüfungen statt, und Schule hat etwas Unbeschwertes. Zudem haben weder der eigene Notenkontostand noch der Stress mit den Prüfungen auf Schüler- wie auf Lehrer:innenseite einen direkten Einfluss auf die Überlegungen.
Zwei Überzeugungen, die aus meiner Sicht für eine gute Schule zentral sind, scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. Eine gute Schule ist eine strenge Schule. Dabei ist «streng» nicht im altertümlichen Sinne von Zucht und Ordnung gemeint ist, sondern beschreibt den Umstand, dass man herausgefordert wird und man sich anstrengen muss. Entsprechend bezieht sich der Stolz auf die erbrachte Leistung und nicht auf die Tatsache, dass man bestanden hat. In einer guten Schule spielen Noten eine möglichst untergeordnete Rolle, so die zweite Überzeugung. Dabei soll «untergeordnet» nicht heissen, dass man die Rolle der Noten im aktuellen Schulsystem verharmlost, sondern dass sie nicht das Ziel weder des Lehrens noch des Lernens sein sollen, sondern Nebeneffekt der Vertiefung in relevante Themen. Entsprechend bezieht sich die Befriedigung mehr auf die Einsichten, die man gewonnen hat, als auf die guten Noten. – Warum sich diese beiden Überzeugungen zu widersprechen scheinen? Weil sich die Anstrengungen und Herausforderungen im gegenwärtigen Schulsystem zu oft bloss auf das Erreichen von guten Noten beziehen.
Zum Glück ist die Welt mit der Schule alten Stils untergegangen, wie sie in den einschlägigen Schulromanen wie Hermann Hesses «Unterm Rad» (1906), Robert Musils «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» (1906) oder Friedrich Torbergs «Der Schüler Gerber» (1930) beschrieben ist. Die drei Romane seien all jenen zur Lektüre empfohlen, die die Dynamik von Unterdrückung, Aufbegehren und – (Selbst-)Zerstörung verstehen wollen. Bemerkenswert ist, dass sogar in jenem System die Figur des «Strebers», für den das Erreichen von guten Leistungen zum verinnerlichten Selbstzweck geworden ist, ein Negativbild war. Das Gegenbild war aber nicht die ernsthafte Vertiefung in eine Sache, sondern eine Form von Aufbegehren, deren äusserer Ausdruck der Streich und die Heimlichtuerei waren: In einem System, das auf Druck und Unterordnung beruht, sind der Streich, den man den Autoritätspersonen spielt, oder das Hinterrückse die Ventile, in denen sich die Lebensenergie ihren Ausdruck suchte.
Die Schülerinnen und Schüler werden in der Regel heute nicht mehr gedemütigt, zumindest ist das der Anspruch, auch an der KUE. Geblieben ist allerdings der Druck, den das heutige System durch die Noten erzeugt, und dieser Druck auf die Schülerinnen und Schüler nimmt, so meine Wahrnehmung, eher zu als ab. Das erwähnte Feilschen ist Ausdruck davon.
Aber auch die Lehrpersonen tragen ihren Anteil dazu bei. Aus der gut gemeinten Überlegung, dass man mehrere Chancen haben soll, und der Angst, dass nur gelernt wird, wo überprüft wird, werden in der Regel viel zu viele Noten erhoben. Diese Noten werden zudem zu einem sehr hohen Anteil über klassische Prüfungen ermittelt. Weil man zuerst unterrichten muss, bevor man prüfen kann, können die Prüfungen zudem nicht regelmässig übers Semester verteilt sein. Dieses Problem werden die immer wieder angemahnten Absprachen unter den Lehrpersonen bestenfalls abschwächen, denn es ist prinzipieller Art. Dass eine solche Prüfungskultur wenig nachhaltig ist und das sog. Bulimie-Lernen fördert, ist den meisten klar, zumindest in der Theorie. Weniger präsent dagegen ist die Einsicht, dass Noten, die eine Form der Rückmeldung zum Lernstand unter anderen sein sollten, durch ihr zu grosses Gewicht den Anschein erzeugen, sie seien der eigentliche Sinn und Zweck des Lernens.
Dabei sind es doch ganz andere Dinge, die einen prägen und neben den sozialen Erlebnissen positiv in Erinnerung bleiben: das Experiment, das einen faszinierte, die Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge, die einen nicht mehr losliess, das Konzert, an dem man teilgenommen hat, die Reise, auf der man merkte, wie man sich in der fremden Sprache verständigen kann, das Buch, das man verschlang, die Erfahrung von Schönheit, die erste längere Arbeit, die man geschrieben hat, das Resultat einer gelungenen Gruppenarbeit, das mehr war als die Summe der Einzelteile.
Ich möchte, dass die KUE eine Schule ist, in der die Schüler:innen regelmässig ihre Comfort-Zone verlassen müssen, wie man heute sagt. Die Herausforderungen sollen aber nicht von den Prüfungen kommen, sondern von den Inhalten. Die Intensität der Auseinandersetzung damit und das Verständnis können auf unterschiedliche Arten überprüft werden, also auch ohne eigentliche Prüfungen. Die Wegleitung zur Notengebung, die wir für die KUE erarbeitet haben, enthält Hinweise, wie das konkret aussehen kann. Ich wünsche mir, dass die Lehrpersonen beim Planen des Semesters diese Aspekte im Kopf haben und dass Eltern und Schüler:innen aktiv eine (selbst)kritische Haltung zum Thema einnehmen.
Jürg Berthold
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