Druck im Sinne der geistigen Belastung ist nicht nur im Zusammenhang mit dem Schulalltag ein oft genannter Begriff. Es gibt ihn in wohl jedem Berufszweig. Auch im sozialen und damit privaten Bereich macht er es sich bequem. Er ist überall und selten ist er ein gern gesehener Gast. Im vergangenen Monat war er in meinen Probezeitklassen allgegenwärtig.
Manche reden ihn zwar schön, verstehen ihn als den kleinen Schubs, der erst Steine und dann Berge in Bewegung setzen kann. Meistens aber duckt man sich, versucht dagegen anzudrücken oder aber lädt sich den schweren Kerl ergeben auf gebeugte Schultern. Wir laufen Gefahr, uns im Kraftakt des (Gegen-)Drückens zu verlieren, oder uns der Unterdrückung hinzugeben.
Oft tritt der Druck alleine auf, obwohl er sich gemäss Duden zusammentun dürfte und sie dann «Drücke» genannt würden. Natürlich bin ich nicht das Mass dieser Dinge, aber ist es nicht tröstlich, dass ich das eben nachschauen musste? Immerhin scheint er relativ einsam zu sein und tritt, wenn schon gegen mich, dann wenigstens nur eins zu eins an. Aber woher kommt er? Kommt der Druck von oben, von aussen oder von innen?
In der Selbstlernwoche nach den Weihnachtsferien haben meine Schülerinnen und Schüler eine Erörterung verfasst. Viele entschieden sich für die Frage: Sollen Noten am Gymnasium abgeschafft werden? Da war von Druck oft die Rede. Und seine Gefährten, die der Begriff um sich scharte, erschreckten mich: Da war von Stress die Rede, von Konkurrenzkampf, von (Prüfungs-)Angst bis hin zur Depression. Und immer wieder kamen die Schülerinnen und Schüler an der Leistungsgesellschaft vorbei und zogen vor ihr den Hut.
Den Begriff der Meritokratie, also der Leistungsgesellschaft, hat Michael Young in seiner Satire “Es lebe die Ungleichheit“ eingeführt. Er entstand im Zusammenhang mit Youngs Erfindung einer negativen Gesellschaftsutopie. Jedes Individuum erhält dem Begriff nach in der Gemeinschaft den Platz, den es gemäss seiner Leistung verdient. Doch was ist eigentlich unter Leistung zu verstehen? Inwiefern sind individuelle Leistungen vergleichbar und können sie eine Gesellschaft ordnen? Während Sozialwissenschaftler diesen Fragen nachgingen, hatte sich der Begriff der Leistungsgesellschaft längst etabliert. Dabei scheint er seinen negativen Charakter genauso abgelegt zu haben wie seinen utopischen Ursprung und nimmt einen festen Platz in unserer Realität ein.
Die schiere Daseinsberechtigung des Begriffs der Leistungsgesellschaft ähnelt derjenigen des Drucks. Ursprünglich zur Beschreibung einer Gesellschaftsordnung oder einer geistigen Belastung dienlich, werden die Schlagworte nun oft als Begründung aufgeführt: Wir liefern, weil wir in der Leistungsgesellschaft leben, wir stossen an unsere Grenzen, weil wir unter Druck stehen. Dadurch, dass wir sie oft in den Mund nehmen, zementieren wir die Begriffe, sie werden härter und unbarmherziger.
Es tut gut, Begriffe in Frage zu stellen. Irgendwie kommt mir der Druck nun dadurch nicht mehr so gespenstisch vor. Schliesslich ist es nicht so, dass wir keine Wahl haben. Wir können ihn aushalten, annehmen, uns gegen ihn sperren. Oder wir können ihm fragend ins Gesicht schauen. Vielleicht kann man ja mit ihm reden, vielleicht können wir ihn sogar überreden, nicht so fest zu drücken, nicht an dieser Stelle, nicht jetzt.
Annamarie Cantieni-Messmer
Wochenbrief_2105