Kann man eine Schule unter eine Idee stellen? Soll man das? Neulich habe ich von jemandem gehört, dass es für die Entwicklung einer Schule einige wenige Leitideen brauche. Damit ist nicht ein Schulleitbild gemeint, wie es selbstverständlich auch die KUE hat. Auch nicht Haltungen, auf die man sich gemeinsam verpflichtet hat und wie sie für die KUE etwa in der Charta zum Ausdruck kommen. Eher wohl Grundsätze schulischen Selbstverständnisses wie jenen Doppelstern des deutschen Reformpädagogen Hartmut von Hentig «die Menschen stärken, die Sachen klären.» Dass wir an der KUE die Schule immer wieder von den 4C her zu denken versuchen und die vier Kernkompetenzen critical thinking, creativity, communication und collaboration als zentral erachten, könnte man in diesem Licht sehen. Auch «Resilienz», wie sie der Historiker Yuval Harari in seinen 21. Lektionen für das 21. Jahrhundert als zentrales Lernziel für Bildungsinstitutionen formuliert, die auf eine unsicher gewordene Zukunft vorbereiten müssen und gewissermassen im Blindflug sind, kommt mir in den Sinn. Über solche Ideen haben wir hier immer wieder geschrieben, sie sind interessant und wichtig. Aber kann man, soll man eine Schule unter eine Idee stellen?
Es gibt eine Parodie dieser Vorstellung, und zwar in Robert Musils monströs umfangreichem Roman «Der Mann ohne Eigenschaften». Es würde darum gehen, eine zentrale Idee für ein Jubiläum von Kakanien zu finden, aber das zuständige Komitee verzettelt sich in unzähligen unseligen Diskussionen und Machtkämpfen. Es lässt sich schlicht keine Leitidee finden, unter welche die Totalität der Realität gefasst werden kann. Zu vielfältig sind die Interessen, zu zahlreich die Gesichtspunkte, zu bunt ist das Leben.
Die Stärke einer Idee besteht in ihrer Allgemeinheit. Die Abstraktheit, auf der diese beruht, ist aber gleichzeitig ihre Schwäche. Wie realisiert sich eine Idee in unterschiedlichen Kontexten? Wie interpretiert man sie richtig beim Versuch, sie zu verwirklichen? Nehmen wir Hentigs Credo: Was heisst es, die Menschen zu stärken? Jemand findet, dass man mit Blick auf dieses Ziel den Druck reduzieren müsse. Jemand anderer behauptet, dass man an Misserfolgen wachse und «ein Schuss vor den Bug» helfe, «den Knopf aufzutun». Und eine dritte Person sagt, Stärke müsse aus einem selbst kommen, schon die Idee sei «paternalistisch». Das kleine Beispiel zeigt: Es ist nicht die Idee als solche, die die Realität prägt, sondern deren Interpretation in einem konkreten Kontext. Deshalb verlieren Ideen im Kontakt mit der Wirklichkeit oft ihren Glanz. Oder sie werden verraten bei der Umsetzung, weil schon die Mittel zu ihrer Realisierung ihnen widersprechen. Das alles muss nicht gegen eine Idee sprechen. Aber es macht deutlich, warum Schulentwicklung sich nicht so planen lässt.
Eine Schule, wie sie mir vorschwebt, ist wie das blühende Leben: ein Raum, in dem sich viele Ideen nebeneinander entwickeln können, ein Raum, der offen ist für Versuche, in einem konkreten Kontext etwas zu verwirklichen, ein Ort, wo debattiert wird darüber, warum etwas nicht funktioniert und wie man es anders probieren könnte. Vielleicht erscheint dieser Raum chaotischer als die Planstadt der einen Idee. Viele Ideen, die nebeneinander aufblühen, scheinen mir näher an der Buntheit des Lebens zu sein. Solange wir eine Schule sind, die möglichst vieles ermöglicht, auch das Scheitern, und die die Neugier fördert – nicht nur bei den Schülerinnen und Schülern –, bleiben wir lebendig.
Jürg Berthold
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