Im Wochenbrief «Unwürdiges Feilschen» wurde erklärt, weshalb nicht Noten die Schule bestimmen sollten. Auf diesen Text möchte ich mich hier beziehen. Um überhaupt erst an die erwähnte Schule zu kommen, muss man einen gewissen Notenschnitt erzielen, denn das Gymnasium selektioniert: zuerst mit einer Aufnahmeprüfung, dann mit der Probezeit, zweimal im Jahr mit dem Promotionsstand und schlussendlich den Maturprüfungen. Noten spielen also in unserem Schulsystem eine ausschlaggebende Rolle. Wenn Noten nun aber nicht die Schule bestimmen sollen und gleichzeitig so auschlaggebend sind, befinden wir uns in einem Dilemma. Ein Dilemma, welches immer wieder aufgegriffen wird und für das es offenbar keine einfache Lösung gibt. Durch dieses Problem werden aber sowohl die psychische Gesundheit der Schüler:innen als auch gewisse Ziele des MAR in Mitleidenschaft gezogen. Denn das momentane System bringt Druck mit sich, Druck der augenscheinlich eher zu- als abnimmt.
Bereits bevor ich mich im Rahmen meiner Maturitätsarbeit mit der psychischen Gesundheit an der KUE beschäftigt habe, war ich besorgt über die teilweise recht grossen psychischen Belastungen durch die Schule. Mit der Arbeit hat sich diese Besorgnis intensiviert. Viele Schüler:innen spüren den Leistungsdruck sehr deutlich. Dennoch wird auf eidgenössischer Ebene bereits diskutiert, ob neben Informatik sowohl Wirtschaft & Recht als auch Philosophie zusätzlich zu maturrelevanten Grundlagenfächern werden sollten. Eine solche Verbreiterung des Schulkanons erscheint mir nicht nachhaltig, weder für die Gesundheit der Jugendlichen noch für das Vertiefen von grundlegenden Kenntnissen – ein Ziel der Maturitätsschulen. Denn jedes Fach muss jedes Semester den Wissenstand erheben, und die Prüfungen sammeln sich allzu oft alle in denselben drei Wochen. Bei einem solchen Prüfungsstress merkt man oft schon nach der Prüfung, dass man bereits alles wieder vergessen zu haben scheint. Würden also noch weitere Fächer dazukommen, könnte solches Bulimie-Lernen verstärkt werden und die allzu breite Fächerung der Bildung käme in Konkurrenz mit dem Ziel von guten grundlegenden Kenntnissen.
Es gibt verschiedene Wege, auf denen man dieser Schwierigkeit entgegenkommen könnte. Die Jahrespromotion in der sechsten mildert den Druck enorm, diese auf die fünfte auszuweiten – was bereits in Planung ist – wird den Druck in diesem strengen Jahr vermindern. Zudem scheint es, dass das System von Jahres- oder generell Repetitionsprüfungen dem allzu schnellen Vergessen des Prüfungsstoffes vorbeugen könnte, da man den Stoff wieder aufarbeiten muss. Das System, dass man eine kleine Verbesserung der Note erzielen kann, wenn man die Prüfungen verbessert, hat ein ähnliches Ziel. Man kann sein Wissen durch eine erneute Auseinandersetzung mit dem behandelten Stoff festigen, anstatt ihn direkt zu vergessen. Etwas drastischer wäre die Entscheidung, die Promotion nach der obligatorischen Schulzeit abzuschaffen und dann erst mit den Maturitätsprüfungen erneut zu «selektieren». So würden die Noten die Schule nicht mehr so weitgehend bestimmen, sondern man könnte sich auf die Auseinandersetzung mit den Inhalten konzentrieren, anstatt dem Leistungsdruck zu erliegen.
Vom Schulstoff her sind es nicht einzelne Noten, die mir gegen Ende der Zeit an der Kantonsschule geblieben sind, sondern viel eher das unerwartet explosive Experiment im Chemieunterricht, die Maturitätsarbeit, das Veröffentlichen selbstgeschriebener Zeitungsartikel, der Curling-Ausflug im Sport, die Zusammenhänge der Geschichte, das Sezieren eines Herzens, ein mathematisches Wandbild, die französischen Chansons oder die spontanen Inszenierungen von Szenen aus Hamlet.
Man steht vor sechs Jahren Kantonsschule und hat keine Ahnung, was auf einen zukommt –und plötzlich sind es nur noch wenige Monate bis zu den Maturitätsprüfungen. Den Weg, den man geht, sieht für jede Schüler:in anders aus und hat doch viele Gemeinsamkeiten. Neben schönen Gemeinsamkeiten, wie dem KUE-Flossrennen am Ende der dritten Klasse oder der Möglichkeit, sich aktiv in die Schulpolitik einzubringen, kennen wir auch dieselben Schwierigkeiten.
Wenige Monate vor den Maturitätsprüfungen setzen sich die einzelnen Wegabschnitte: Sackgassen, Weggabelungen, Stolpersteine, schöne Ausblicke sowie Durststrecken als auch deren Enden, langsam zu einer Reise zusammen. Gleich ergeht es mir mit den Dingen, die ich in den letzten Jahren gelernt habe. Langsam kommen die Dinge aus den verschiedenen Fächern im Hinblick auf die Matur zusammen. Ich bin immer wieder überrascht, wie stark die Dinge miteinander verknüpft sind, die Psychoanalyse, die mir bereits ein-, zweimal begegnet ist, taucht im Deutschunterricht auf. Das Wissen zu Kernkraftwerken aus der Chemie kommt im Geschichtsunterricht wegen Tschernobyl wieder vor. Die einzelnen Mosaiksteinchen Wissen, die ich mir in den vergangenen Jahren angeeignet habe, sind nicht mehr zusammenhangslos, sondern ergeben ein Bild und können gemeinsam verschiedene Zusammenhänge erklären.
Miranda Spahn
WB_22_12