Was wohl in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler vorgeht? Diese Frage habe ich mir schon in vielen Lektionen gestellt. Als Lehrer versuche ich zwar immer, die Denkbewegungen innerhalb der Klasse zu koordinieren, aber wirklich die Kontrolle darüber, was bei den Jugendlichen durch meine didaktischen Arrangements ausgelöst wird, habe ich nicht.
Im Unterricht, wie wir ihn im Moment durchführen müssen, stellt sich das gleiche Problem, aber in anderen Ausprägungen. Wir sehen noch weniger, was die Schülerinnen und Schüler machen, wo sie arbeiten, wie sie arbeiten, wie häufig sie Pause machen. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen darauf vertrauen, dass viel Positives passiert, selbst wenn sie es nicht sehen.
Es gibt aber im «Corona-Schulmodus» schriftliche Formen des Austauschs zwischen Lehrenden und Lernenden, die eine grosse Verbindlichkeit haben. Der persönliche Austausch, der etwa über den Computer zwischen KlassenlehrerInnen und einzelnen SchülerInnen entstanden ist, hat eine Qualität, die sich nachhaltig positiv auswirken wird, wenn wir uns dann wieder direkt treffen können.
In der Öffentlichkeit stellen sich viele Leute im Moment die Frage, ob die Kinder im sogenannten Fernunterricht nicht zu viel verpasst hätten, und zwar im Bereich des Lernstoffs.
Der Bildungsökonom Stefan Wolter sagt dazu:
«Man wird Defizite kompensieren müssen, das ist klar. Aber meiner Meinung nach sollte man diese Folgen nicht überbewerten, sondern auch die positiven Seiten sehen. Für viele Schüler war der Fernunterricht zwar ein Schock. Nicht alle konnten damit umgehen. Aber einige lernten Neues, zum Beispiel selbstständig zu arbeiten. Forschungsresultate belegen, dass nach schwierigen Situationen ein kurzzeitiger Einbruch zu beobachten ist, danach aber die Lernkurve sogar stärker steigt.»
https://www.tagesanzeiger.ch/jugendarbeitslosigkeit-wird-extrem-anschwellen-811661158627 (abgerufen am 9. Mai 20)
Interessant finde ich vor allem den letzten Satz. Zwar mag ich nicht, wenn man ohne genauere Angaben auf «Forschungsresultate» verweist, aber das Phänomen kenne ich als Lehrer aus meiner langjährigen Erfahrung gut. Es gibt immer wieder Schülerinnen und Schüler, die wegen privater Schwierigkeiten während einer bestimmten Zeit schulisch nachlassen. Aber die Erfahrungen haben sie einen persönlichen Reifungsschub durchmachen lassen, der das schulische Lernen günstig beeinflusst.
Ich hoffe, dass unsere Schülerinnen und Schüler diese schwierige Corona-Zeit auch als einen persönlichen Reifeprozess erleben.
Halten Sie durch!
Martin Zimmermann
Wochenbrief_2020