Zum Jahreswechsel können Vorsätze hilfreich sein, selbst wenn sie bereits im Januar bröckeln. Auch gute Wünsche sind sinnvoll, weil sie einen Erwartungshorizont für das neue Jahr öffnen, obwohl wir wissen, dass nicht alles in Erfüllung gehen kann, was wir uns erhoffen.
Versprechen aus dem alten Jahr soll man auf jeden Fall einlösen und nicht aufschieben. Aus diesem Grund mache ich die Ankündigung aus meinem letzten Wochenbrief wahr und versuche, etwas über «musikalisches Denken» zu schreiben.
Ausgangspunkt ist die «Inventio 1» von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750). Dieses kurze Musikstück dauert kaum mehr als eine Minute, ist aber ein wundervolles Beispiel dafür, wie klar Musik gedacht werden kann.
Das ganze Stück entwickelt Bach aus den ersten acht Noten. Das tut er nicht einfach durch blosse Wiederholung, sondern indem er das Motiv umkehrt oder die ersten vier Noten augmentiert (in der Länge verdoppelt). Zudem macht Bach Abstecher in andere Tonarten, bis er dann am Schluss erwartungsgemäss in C-Dur abschliesst. Jeder Ton in dieser Invention steht in Beziehung zum Anfangsmotiv und zum Gesamtkonzept des Stücks.
Musikalisches Denken bedeutet hier, einen Gedanken in verschiedenen Ausformungen durchzuspielen. Es geht darum, eine Idee zu variieren, sie weiterzuführen und in unterschiedlichen Kontexten zu verstehen.
Wer solche Musik spielt, wird vielleicht begreifen, dass man als einzelner Mensch – wie die einzelnen Noten bei Bach – immer in einem grösseren Kontext steht.
Das zweite Beispiel stammt aus Dimitri Schostakowitschs 5. Symphonie von 1937. Nachdem Schostakowitsch heftig wegen zu moderner Kompositionen angegriffen worden war, versuchte er mit diesem grossen Werk, sich bei der politischen Macht zu rehabilitieren. Das gelang ihm tatsächlich. Wenn man aber genau hinhört, merkt man, dass er sich keineswegs einfach unterworfen hatte. So bestehen beispielsweise die letzten Takte der Symphonie aus einer obsessiven Wiederholung des Tons D. D wie Dimitri. Schostakowitsch wiederholt laut und hämmernd ein D: Ich, Dimitri, lebe als Mensch mit eigenen Bedürfnissen und eigenen Wünschen, trotz aller stalinistischen Unterdrückung.
Aus meiner Sicht passen diese musikalischen Gedanken gut zum neuen Jahr, in das wir gemeinsam als KUE gehen. Es ist mir bewusst, wie stark der Druck in den letzten Jahren zugenommen hat, auch wenn er in nichts vergleichbar ist mit dem stalinistischen Regime. Die Pandemie hat vieles noch verschärft. Gerade die Schülerinnen und Schüler müssen liefern, sich einordnen, Regeln befolgen, sie werden geleitet durch allerlei Einflüsse (Stichwort Algorithmen, soziale Medien, politische Positionen). Dabei stehen die Jugendlichen in einer Phase der Selbstfindung, in der sie aus Zwängen ausbrechen und sich als Individuen bestätigen wollen.
In diesem Spannungsfeld ist es nicht einfach, sich zurechtzufinden. Das gilt für die Schülerinnen und Schüler ebenso wie für die Erwachsenen.
Ich wünsche für 2022 allen Schülerinnen und Schülern, allen Eltern und allen, die an der KUE arbeiten, gutes Gelingen im Finden des Ausgleichs zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen.
Und wer gerne noch eine andere Form von musikalischem Denken ausprobieren möchte, dem empfehle ich dieses wunderbare Stück Musik (Link) von Jean-Philippe Rameau (1683 – 1764).
Martin Zimmermann
Wochenbrief_2201