Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, lautet eine berühmte Gedichtzeile. Dass das auch fürs Schulsemester gilt, wird man diese Woche wieder beobachten können. In den meisten Fächern werden neue Themen in Angriff genommen. Vielleicht kommt die Lehrerin mit einem Stapel Taschenbücher ins Klassenzimmer, einem Roman etwa, dessen erste Seiten gleich gelesen werden. Oder es wird das nächste Kapitel im Grammatikbuch aufgeschlagen und eine neue Lektion angefangen, vielleicht um eine neue Zeitform zu lernen. Bald wird man sein Leben im Futur erzählen oder sich Dinge im Konjunktiv ausmalen können. Oder es wird eine ganz andere Art von Mathematik eingeführt. Unvergessen für mich der Moment, als ich zum ersten Mal mit Variablen zu tun hatte! Was bei den Älteren so unmöglich und schwierig ausgesehen hatte, nämlich dass sie mit Buchstaben rechnen konnten, war plötzlich gar nicht mehr so geheimnisvoll. Oder es wird ein ganz neues Konzept eingeführt, ohne dass man es gleich merkt, etwas, was man in der Wissenschaftstheorie Schwellenkonzept («Threshold Concept») nennt und einen Begriff meint, mit dem man die Welt ganz anders sehen lernt. So wird, wer die Begriffe «Gravitation» und «Evolution» kennengelernt hat, für immer auf andere Weise über fallende Gegenstände und Lebewesen sprechen. Und wer den Begriff «Anthropozän» verstanden hat, wird die eigene Gegenwart anders sehen lernen, nämlich als neues Erdzeitalter, in dem wir Menschen auf vielen Ebenen, nicht nur beim Klima, ein einflussreicher Faktor geworden sind. – In all diesen Momenten regt sich etwas, es liegen Neugier und Neuanfang in der Luft, und wir hoffen natürlich, dass das in möglichst vielen Lektionen der Fall sein wird.
Neuanfänge spielen aber nicht nur in diesen ganz grossen Zusammenhängen eine Rolle, sondern auf vielfältige andere Weise im Kleinen. Ein Fach, das man bisher noch nicht hatte, kommt neu hinzu. So beginnen alle dritten Klassen diese Woche mit dem Fach „Wissenschaftliche Texte“, in dem es darum geht, sich systematischer mit Fragen rund um das wissenschaftliche Schreiben zu befassen und ein eigenes kleines Projekt zu verfolgen.
Oder: Eine Schülerin kommt aus dem Austauschsemester zurück, ein Repetent kommt neu dazu oder eine Gastschülerin ist für ein paar Wochen auch mit dabei. Oder die Klassenlehrperson schlägt (bei einer unteren Klasse) eine andere Sitzordnung vor, damit jene, die sich leicht von ihren Gspänli ablenken lassen, etwas konzentrierter arbeiten können. Auf diese Weise finden Neuanfänge auch im Sozialen statt.
Oder eben: Die Notenzählung beginnt wieder bei null und man hat Gelegenheit, die guten Vorsätze von Anfang an umzusetzen, etwa was das Mitmachen im Unterricht betrifft. Würde es nicht etwas frivol klingen, weil es an Casino und Glückspiel erinnert, könnte man zum Semesteranfang durchaus rufen: Faites vos jeux! Neues Spiel, neues Glück!
Jürg Berthold
Wochenbrief 20_9