Ida ist mit ihrer Mutter in eine andere Stadt gezogen. An der neuen Schule wird sie vom Direktor begrüsst: «Wir setzen auf Motivation, Eigenverantwortung und Selbständigkeit. Hier hast du die Anleitungen dazu.» Dann bekommt die etwa 14-jährige Ida einige dicke Broschüren mit dem Auftrag, alles genau zu lesen.
Das ist zwar nur eine Szene aus dem Film «Die Schule der magischen Tiere», aber sie zeigt ein Paradox, das in aktuellen Schul-Diskussionen über «SOL» (selbst organisiertes Lernen) immer wieder auftaucht. Man tut so, als gäbe man den Schülerinnen und Schülern Freiräume, in denen sie ihre Aufgaben selber planen, durchführen und auswerten können. In Wirklichkeit gibt man ihnen lediglich Aufträge, die abgearbeitet werden müssen.
Häufig liegt dies daran, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer auf bestimmte Lernziele (beziehungsweise Stoffpläne) beziehen, die alle Lernenden erreichen müssen. Dann kann man auch bei allen die gleiche Prüfung machen, und es entsteht eine «gerechte» Note. SOL, so umgesetzt, ist gewissermassen die billige Auslagerung des Unterrichts, und vor allem schöpft man auf solche Weise nicht das ganze Potenzial dieser didaktischen Anlage aus.
Wenn man sich auf die Idee der Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler einlassen will, muss der Horizont erweitert werden. Bei der Maturitätsarbeit zeigen sich die Vielfalt und der dadurch entstehende Gewinn sehr deutlich.
Die einzelnen Schülerinnen und Schüler lassen sich auf ein Projekt ein, das sie sich weitgehend selbst vornehmen. Viele blühen dabei auf und erzielen hervorragende Resultate, weil sie ihr Thema, ihren Anspruch und ihre Arbeitsweise selber bestimmen können. Die Motivation ist tendenziell eher intrinsisch (von innen herkommend) und weniger extrinsisch (fremdbestimmt).
Für den regulären Unterricht sehe ich hier eine grosse Ressource, auf die man phasenweise zurückgreifen kann. Die digitalen Hilfsmittel sind dabei eine willkommene Unterstützung. Die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer wird sich in einem geschickten SOL-Setting allerdings verändern. Man unterrichtet nicht einfach eine Klasse, sondern man begleitet Projekte. Noten entstehen durch die Bewertung von Produkten und nicht durch summative Tests, bei denen alle über einen Leisten geschlagen werden – wenn man diesen Ausdruck in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden darf.
In gewissen Fächern ist diese differenzierte Benotung schon üblich. So ist etwa die Bewertung des traditionellen Aufsatzes im Sprachunterricht immer eine Einzelbewertung, die nicht einfach über einen Anforderungsraster erfolgen kann. Willkürlich ist deswegen die Benotung durch die Fachleute für Texte (Sprachlehrpersonen) nicht. Auch im Bildnerischen Gestalten – um ein zweites Beispiel zu nennen – wissen die Lehrer:innen, worauf es ankommt, aber sie werden die Arbeiten von Schüler A und von Schülerin B immer individuell beurteilen.
Das ist keine Form von Ungerechtigkeit, sondern das Eingehen auf die Fähigkeiten, Ansprüche und Bedürfnisse unserer Schülerinnen und Schüler.
Martin Zimmermann
PS: Wer mehr zu SOL lesen möchte, findet im neuen Schulblatt (Link) des Kantons Zürich interessante Beiträge zu diesem Thema.
Wochenbrief_2210