Schüler:innen zum Staunen bringen

Im Unterricht sollte man immer wieder mal staunen können. Mehr dazu im aktuellen Wochenbrief.

Angenommen, man würde sämtliche Primzahlen kennen. Man könnte diese multiplizieren und hätte damit eine Zahl. Zu dieser könnte man 1 hinzuzählen. Diese neue Zahl liesse sich nicht als Produkt der soeben multiplizierten Primzahlen darstellen; sie ist ja grösser als die grösste Zahl, die man eben aus den gegebenen Zahlen gebildet hat. Da sich jede natürliche Zahl (und eine solche ist auch unsere neue Zahl) als Produkt von Primzahlen darstellen lässt, muss es mindestens eine weitere Primzahl geben. Also, so die Schlussfolgerung, muss die Anzahl der Primzahlen unendlich sein, denn man kann dieses Verfahren ja immer weiter wiederholen. – So lautet der Beweis, der in einer neulich besuchten Mathe-Lektion erarbeitet wurde, und zwar in einer ersten Klasse des Langgymis. Die Überlegung stammt vom griechischen Mathematiker Euklid (3. Jh. vor Chr.), sie ist also mehr als 2000 Jahre alt.

Um den Beweis ganz zu verstehen, muss man schon zwei, drei Eigenschaften von Primzahlen kennen. Das war bei den 12jährigen Schüler:innen offensichtlich der Fall, und so konnte ich beobachten, wie sie über die Pointe staunten. Die sprichwörtlichen Münder waren zwar nicht offen, aber die Faszination zeigte sich in der Verwunderung, wie jemand auf diese Idee hat kommen können. In Platons Dialog «Menon» kommt für den Moment des Staunens das Bild des Zitterrochens (gr. narke) vor: «Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahekommt und ihn berührt, erstarren. Etwas derartiges hast auch du denn, wie mich dünkt, jetzt mir angetan. Du hast mich erstarren gemacht.» Tatsächlich fängt der Zitterrochen seine Beute, indem er sie mit Stromstössen narkotisiert. Das Moment der Erstarrung kommt auch im Bild des Mundes zum Ausdruck, der sich vor Staunen nicht mehr schliesst.

Schüler:innen verlangen immer wieder, dass sie verstehen, warum sie sich mit etwas beschäftigen sollen. Das ist mehr als verständlich. Es erhöht die Motivation, wenn man den Nutzen von etwas mitdenkt, das Unterrichtsthema in einem grösseren Kontext sieht, mit seinem eigenen Leben verbinden kann. Dass man Primzahlen bei Verschlüsselungstechniken einsetzt, wäre dafür ein Beispiel. Momente der staunenden Sprachlosigkeit haben aber eine ganz andere Qualität. Der Beweis vermöchte auch zu faszinieren, wenn daraus gar nichts weiteres folgen würde. Das Staunen hat gewissermassen einen Wert in sich selbst, sie ist eine Erfahrung eigener Art.

In der KUE-Charta heisst es: «Wichtig sind (…) grundlegende Einsichten in Zusammenhänge und nicht Detailkenntnisse.» Es wäre in meinen Augen falsch, die beiden Dimensionen gegeneinander auszuspielen – zumindest, wenn es ums Staunen geht. Dieses ist in beiden Welten zu Hause. Vielleicht ist die Freude an sogenannten Fun facts so zu verstehen, an jenen vergnüglichen bis kuriosen Details jenseits des Nützlichkeitsgedankens. Grundlegende Einsichten haben aber das grössere Potential, dass aus dem Staunen sich Zusammenhänge erschliessen und der Geistesblitz ausstrahlt auf die Umgebung.

Es wäre übertrieben zu meinen, dass jede Lektion eine Begegnung mit dem Zitterrochen sein kann. Aber für uns Lehrpersonen ist es gut zu versuchen, es ihm bisweilen nachzumachen und kleine Stromstösse auszusenden.

Jürg Berthold

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