Pi – Oder warum Lehrpersonen demütig sein müssen (18_39)

„Wissen Sie, was das ist?“ Das fragte mich neulich eine Schülerin und zeigte mir diese Reihe schwarzer Felder. Jedes erinnert an das Schwarze Quadrat von Malevitsch, jene Ikone der Kunst des 20. Jahrhunderts. „Das sind alle von Pi bekannten Stellen - kopiert in ein Worddokument, Schriftgrösse 1. Das gibt fast 12 Seiten.“

„Wissen Sie, was das ist?“ Das fragte mich neulich eine Schülerin und zeigte mir diese Reihe schwarzer Felder. Jedes erinnert an das Schwarze Quadrat von Malevitsch, jene Ikone der Kunst des 20. Jahrhunderts. „Das sind alle von Pi bekannten Stellen - kopiert in ein Worddokument, Schriftgrösse 1. Das gibt fast 12 Seiten.“

Zweierlei ist an dieser kleinen Geschichte für die Schule interessant. Die Arbeit ist zwar nicht das, woran der Mathematiklehrer dachte, als man in der Klasse über die Zahl Pi sprach. Die Bildserie bringt aber auf ihre Weise eine Faszination für diese geheimnisvolle unendliche Reihe zum Ausdruck, ähnlich wie bei einem Schüler, den ich mal kannte: Seinen Spitznamen Pi hatte er, weil er die ersten 250 Stellen hinter dem Komma auswendig konnte. Die schwarzen Quadrate sind Ausdruck einer Form von kreativer Anverwandlung. Eine solche wohnt jedem richtigen Lernen inne: Man nimmt nicht nur auf und reproduziert, was man gelernt hat. Es geht darum, dass man daraus etwas Eigenes macht, es an sich heranlässt und es verwandelt. Und dabei verwandelt man sich selbst auch.

 

Der andere Aspekt soll durch eine zweite Geschichte verdeutlicht werden. Vor einigen Jahren traf ich in der Zentralbibliothek Zürich einen pensionierten Englischlehrer mit einem Stapel arabischer Bücher. Auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, Arabisch zu lernen, erzählte mir Edi Folgendes: Am Anfang seiner Mittelschulzeit habe der Lateinlehrer in der ersten Lektion einen Baum an die Tafel gezeichnet. Demonstriert werden sollte, wie die unterschiedlichen Sprachen mit dem Latein verwandt sind. Vielleicht wollte der Lehrer auch die Motivation fürs Lernen der toten Sprache durch die Fülle der lebendigen Sprachen erhöhen. Ob es nur diesen einen Baum gebe oder ob es sich um einen Wald handle, wollte Edi wissen und streckte auf. „Als ich erfuhr, dass es noch andere Bäume, also noch viele andere Sprachfamilien gibt, schwor ich mir: Irgendwann einmal werde ich die Sprache eines anderen Baumes lernen.“ Und mehr als 50 Jahre später steckt er mitten in der Vorbereitung für eine Arabischprüfung an der Uni Zürich.

Was aus dem wird, was wir im Unterricht machen, lässt sich weder kontrollieren noch vorhersehen. Das erfüllt mich als Lehrer mit einer gewissen Demut. Die Geschichte zeigt, dass die Früchte oft spät aufgehen und an Stellen, wo man es nicht erwarten würde - so wie in der Serie schwarzer Bilder aus den Millionen von Ziffern von Pi.

Jürg Berthold, Prorektor

Wochenbrief 18_39