Kennen Sie das Phänomen? Plötzlich begegnet Ihnen immer wieder das gleiche Motiv. Mir ging es in den letzten Wochen so mit Sonnenuntergängen. Überall sah ich entsprechende Fotos, entdeckte Anspielungen auf die berühmten Bilder von Caspar David Friedrich, las Texte, in denen von der untergehenden Sonne die Rede ist.
Viele fragen sich in dieser Situation, ob die immer wieder auftauchenden Motive eine Botschaft des Schicksals, des Weltgeistes, des Göttlichen sein könnten. So hoch will ich das nicht hängen, die Erfahrung wurde für mich lediglich zum Anlass, einen Wochenbrief zu schreiben.
Als Ausgangspunkt nehme ich ein Gedicht von Heinrich Heine (1797 – 1856).
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
Heine, der unerbittliche Spötter, macht sich lustig über die Person, die er «Fräulein» nennt. Er unterstellt ihr falsche Gefühle, Gefühle nämlich, die konventionell und nicht persönlich empfunden sind. «Lang und bang seufzen» ist nur das Nachahmen einer Empfindung, die zur Zeit der Romantik überall besungen wurde. Der forciert-falsche Reim «Meere – sehre» unterstreicht das.
Heine lässt dann in der zweiten Strophe einen Beobachter auftreten, der die grosse Rührung des Fräuleins zerstört. Dass die Sonne verschwindet, sei eine Folge der Verhältnisse im Sonnensystem, sagt er schnippisch. Es seien lediglich physikalische Gesetze wirksam, welche das Phänomen vorhersehbar und berechenbar machen. Bleib doch nüchtern und vernünftig, scheint er zu sagen. Ob das die Empfindung des «Fräuleins» auszulöschen vermag?
In den Lektionen, die ich in diesem Semester gemeinsam mit dem Mathematiker David Kessler halte, kam häufig die folgende Frage auf: Kann sich eine literarisch-ästhetische Wahrnehmung der Welt mit der Genauigkeit der wissenschaftlichen Vorgehensweise messen? Ist das naturwissenschaftliche Weltbild der mythisch-bildlichen Beschreibung der Welt nicht überlegen?
Meines Erachtens ist diese Frage allerdings falsch gestellt. Gerade am Gymnasium, das einen grundlegenden allgemeinbildenden Auftrag hat, geht es darum, verschiedene Perspektiven auf die Welt und ihre Phänomene zuzulassen. Der Blick einer Biologin auf den Wald als Lebensraum – um ein anderes Beispiel zu nehmen – ist nicht wertvoller als die Annäherung eines Historikers an die Geschichte des Waldes. Und auch die Lyrik eines Joseph von Eichendorff bringt neue Erkenntnisse über die Art und Weise, wie der Wald von uns Menschen wahrgenommen wird. Biologie, Geschichtswissenschaft und Poesie haben unterschiedliche Sichtweisen auf das gleiche Phänomen, sie ermöglichen deshalb auch unterschiedliche Antworten, die sich nicht ausschliessen, sondern sich ergänzen.
Ich bin froh, dass wir am Gymnasium eine Vielfalt von Fächern haben. Damit werden wir «der Welt» eher gerecht als mit dem ausschliesslichen Blick eines einzelnen Faches.
Martin Zimmermann
Wochenbrief_2346