«His reply was a doozy», stand unter dem Insta-Post des Schauspielers Michael Warburton. Der Ausdruck «doozy» war mir nicht geläufig. Mir war aber klar, was er bedeuten musste, als ich die Geschichte gelesen hatte, auf die sich der Post bezog. Im Jahr 2006 hatte eine Englischlehrerin der Xavier High School in New York City ihre Klasse aufgefordert, einem Autor oder einer Autorin zu schreiben, um sie oder ihn an die Schule einzuladen. Was er ihnen fürs Leben raten würde, sollte die Frage lauten. Der Einzige, der sich meldete, war Kurt Vonnegut (1928-2007), ein US-amerikanischer Schriftsteller, um den es ruhig geworden war und der ein knappes Jahr danach starb. Der Brief vom 5. November 2006 an die Klasse von Ms. Lockwood war zwar eine Absage, er sei hier aber in (fast) voller Länge zitiert.
« What I had to say to you, moreover, would not take long, to wit: Practice any art, music, singing, dancing, acting, drawing, painting, sculpting, poetry, fiction, essays, reportage, no matter how well or badly, not to get money and fame, but to experience becoming, to find out what's inside you, to make your soul grow.
Seriously! I mean starting right now, do art and do it for the rest of your lives. Draw a funny or nice picture of Ms. Lockwood and give it to her. Dance home after school and sing in the shower and on and on. Make a face in your mashed potatoes. Pretend you're Count Dracula.
Here's an assignment for tonight, and I hope Ms. Lockwood will flunk you if you don't do it: Write a six-line poem, about anything, but rhymed. No fair tennis without a net. Make it as good as you possibly can. But don't tell anybody what you're doing. Don't show it or recite it to anybody, not even your girlfriend or parents or whatever, or Ms. Lockwood. OK?
Tear it up into teeny-weeny pieces and discard them into widely separated trash receptacles. You will find that you have already been gloriously rewarded for your poem. You have experienced becoming, learned a lot more about what's inside you, and you have made your soul grow. »
Interessant ist, dass Vonnegut nicht ein einzelnes Schulfach fordert. Er regt vielmehr an, eine bestimmte Haltung einzunehmen – einem selbst und der Welt gegenüber. Es geht dabei nicht darum, was andere davon halten, also nicht um Erfolg und Ansehen. Es geht um das, was mit uns passiert, wenn wir in dem beschriebenen Sinne der Kunst Raum geben. Man kann die Augenblicke der Selbsterkenntnis in allen Fächern erfahrbar machen, und ich wünsche mir für die Schülerinnen und Schüler, dass sich solche Momente der Intensität im Unterricht an der KUE möglichst oft ereignen. In der klassischen Formulierung von Wilhelm von Humboldt geht es bei Bildung darum, «so viel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur möglich, mit sich zu verbinden.» Deshalb gehört zur Welt- immer auch Selbsterkenntnis. Vonneguts Hinweise können uns helfen, wenn wir unsere nächsten Lektionen planen oder über Unterrichtsprojekte nachdenken.
Und wozu das Tennisnetz? Vonneguts augenzwinkernden Hinweis verstehe ich so, dass sich Selbsterkenntnis weniger in der spontanen Äusserung ergibt als in den Versuchen, eine angemessene Form zu finden. Die «Reime» verweisen in diesem Sinne auf die Widerstände der Welt. Auch das wünsche ich mir für den Unterricht an der KUE: Dass er genügend Widerstände bietet, an denen man wachsen kann.
Jürg Berthold
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PS Aufmerksam auf den Post wurde ich übrigens, weil ich auf Instagram einer ehemaligen Schülerin folge, die vor vielen Jahren die Matur gemacht hat und jetzt als Radio- und Fernsehjournalistin arbeitet. Und DeepL übersetzt den Anfangssatz so: «Seine Antwort war der Hammer». Ich würde fast wetten, dass Sie darauf sinngemäss auch gekommen sind, auch wenn Sie den Ausdruck (wie ich) nicht kannten.