Nicht für die Schule…

Was braucht es, um erfolgreich zu sein? Dazu haben Dr. Roger Federer und andere etwas zu sagen. Mehr dazu im aktuellen Wochenbrief!

«Genie, das sind 10% Inspiration und 90% Transpiration», lautet ein berühmtes Bonmot von Umberto Eco, dem Schriftsteller und Literaturwissenschafter. Der flapsige Spruch kam mir letzte Woche in den Sinn, als Ausschnitte aus einer Rede von Roger Federer viral gingen. Dass einem Sportler, auch einem Jahrhunderttalent wie ihm, die Ehrendoktorwürde verliehen wird (noch dazu zum zweiten Mal), ist an sich schon erwähnenswert. Bedenkenswert ist an der Rede, die er am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, hielt, aber der Inhalt, seine «tennis lessons». Zwei möchte ich hervorheben. Hinter seinem Spiel, das immer wieder als «effortless» beschrieben worden sei, steckten hartes Training und Jahre der Arbeit, so Federer. Es sei sehr schwer gewesen, damit sein Spiel so leicht ausgesehen hätte. Talent ist deshalb vor allem das Talent, aus seinen Talenten durch Arbeit etwas zu machen. Er hätte, so der zweite Gedanke, fast 80% der 1526 Einzelspiele seiner Karriere gewonnen. Aber nur 54% aller Punkte! Welche Lehre zieht Federer aus dieser Differenz? Dass im Moment, wo es um einen Punkt geht, dieser vollkommen im Fokus steht. Dass aber im Moment, wo er verloren ist, es um den nächsten Punkt geht. Man muss lernen, dass die Niederlage und das Imperfekte ebenso dazugehören. Erfolgreich ist nur, wer die Stärke hat, sich nach Verlusten (und die machen immerhin fast 50% aus) wieder voll und ganz auf das Nächste einzulassen.

In einem längeren NZZ-Artikel formulierte die emeritierte Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm neulich Gedanken, die sich hier einfügen. Wenn es um Schule gehe, sei zu oft die Rede von Intelligenz. Dabei verstelle «die Fama des begabten Kindes» den Blick auf Wesentliches: «Entscheidend für den Erfolg ist eine Kombination aus Gewissenhaftigkeit, Begeisterungsfähigkeit und Ausdauer» (NZZ vom 15. Juni 2024). Egal, ob man von «überfachlichen Kompetenzen», «Soft Skills» oder von «Future Skills» spricht: Es sind nicht in erster Linie Wissen und kognitive Fertigkeiten, die man im Leben braucht.

«Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir», lautet der oft zitierte Satz. Die Schule hat das nie ernst genommen, im Gegenteil. Statt daraus Forderungen abzuleiten, wie der Unterricht sein müsste, hat sie mit dem Satz den moralischen Zeigefinger erhoben. Nicht selten ging es darum, Wissen von geringer Relevanz als lebenswichtig zu verkaufen. Ganz nach dem Motto: ‘Du wirst schon sehen, was passiert, wenn du jetzt nicht genug lernst!’ Es erstaunt deshalb nicht, dass der Originalsatz beim römischen Philosophen Seneca grad andersherum lautet: «Non vitae, sed scholae discimus» (Nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen wir). Im Brief an seinen Schüler Lucilius kritisiert Seneca damit die Lebensferne der damaligen Philosophenschulen. Wo genau es zum ersten Mal zur fatalen Verdrehung gekommen ist, weiss ich nicht.

Was machen die Mittelschulen, was macht die KUE, um diesen Zusammenhängen gerecht zu werden? Sicher ist: Die Schule konzentriert sich immer noch viel zu oft auf Hard Skills, also auf Dinge, die gemessen und geprüft und die in Noten, Zeugnissen und Zertifikaten abgebildet werden können. Vergleichbarkeit ist der Fetisch, der alles bestimmen soll. Das fängt beim Zentralen Aufnahmeverfahren an und ist dann der Grundbeat des gesamten Systems. An der KUE versuchen wir da und dort, über diesem Basso continuo freiere Melodien zu spielen. Ich denke an Formate wie KUE-Gives-Back, an die Schüler:innen, die während zwei Tagen die Schule schmeissen (SmS), an Pool-Projekte und andere offenere, oft interdisziplinäre Arbeitsformen oder an die Entdeckungsreisen vor dem Eintritt ins Maturjahr. Es ist manchmal nicht leicht, diese zarten Töne über dem Grundbeat zu hören. Aber sie sind da.

Jürg Berthold

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