Menschen als Individuen wahrnehmen

Was sagen uns diese Gesichter? Mehr dazu im aktuellen Wochenbrief.

Sobald man weiss, dass es diese Menschen nicht gibt, sind die Porträts unheimlich. Ist ihr Lachen nicht Ausdruck echter Freude? Schauen sie uns nicht an, als wollten sie uns etwas sagen? Die Webseite this-person-does-not-exist generiert auf Klick beliebige Porträtfotos; Geschlecht, Alter und Herkunft kann man auswählen. Die durch AI hervorgebrachten Gesichter haben aber keine Identität. Sie sind namenlos.

Ganz anders auf den Fotos, die in den nächsten Wochen fürs Yearbook unserer Maturklassen angefertigt werden. Jede und jeder wird dort einzeln ins beste Licht gerückt. Wer später die Sammlung wieder zur Hand nehmen wird, wird anhand der Fotos Geschichten erzählen können, die zu deren Identität gehören. Ganz anders auch auf im Haus A der KUE: Da sind auf einer grossen Scheibe die Vornamen all jener aufgeführt, die im Jahr 2018 hier begonnen haben. Sie alle stehen für konkrete Individuen. Wer weiss, wer hinter den Namen steht, sieht in lebendige Gesichter und erinnert sich an Begegnungen und Gespräche. Das ist auch dann so, wenn jemand seinen Namen in der Zwischenzeit geändert hat wie neulich eine Schülerin, auf deren Maturzeugnis noch ein männlicher Vorname stand. Ihrem Gesuch, das Dokument dem neuen amtlichen Eintrag anzupassen, sind wir gerne nachgekommen. Auch das hat mit dem Ernstnehmen der individuellen Identität zu tun.

«An der KUE stehen die Jugendlichen im Mittelpunkt», heisst es im Leitbild der KUE. Wir «nehmen die Schülerinnen und Schüler als Individuen mit ihrem je eigenen Potenzial wahr.» Das ist der Anspruch, und es ist gar nicht so einfach, die Schüler:innen als Individuen wahrzunehmen und ihr Potenzial zu sehen. Die Klassen sind gross, und es bestehen nicht so wie von selbst Gelegenheit für einen vertieften Austausch mit jedem Einzelnen. Trotzdem wollen sich alle gesehen wissen. Als Lehrpersonen geben wir uns Mühe, die Schüler:innen als Individuen wahrzunehmen – und über die gemeinsame Zeit gelingt das nicht schlecht. Wir kennen unsere Pappenheimer, im Guten wie im Schlechten. Das Ernstnehmen beginnt beim möglichst schnellen Lernen der Namen, wenn man eine Klasse neu übernimmt. Dazu gehört aber auch, dass man auch ein Ohr für die Stilleren hat, oder dass man die Augen offen hat für die verschiedenen Dinge, die neben dem Unterricht ablaufen. So sind die Lehrpersonen, die im Maturjahr unterrichten, schon jetzt richtig wehmütig beim Gedanken, dass die jungen Erwachsenen in ein paar Wochen weiterziehen werden. Wir als Schulleiter:innen kenne nur die wenigsten Schüler. Wir sind aber bemüht, die individuellen Situationen zu berücksichtigen, wenn wir Entscheide treffen müssen. Das mag vielleicht einmal ungerecht erscheinen. Aber alle über einen Kamm zu scheren ist auch nur auf den ersten Blick die bessere Art, mit der unreduzierbaren Vielfalt umzugehen.

Ob die realen Identitäten und die KI dereinst bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen werden, wie es Ian McEwan in seiner wunderbaren kurzen Erzählung «Düssel…» imaginiert, weiss ich nicht. Ich habe aber das sichere Gefühl, dass die KI erzeugten Fotos wirklich erst der Anfang sind. So gibt es KI-Schönheitswettbewerbe, und in der Jury sitzen neben Menschen auch KI-Influencerinnen. Hier kann man lernen, Fotos von realen Menschen zu unterschieden von solchen, die von einer KI erzeugt wurden. Das ist ein kleiner Beitrag zur digital literacy. An der KUE sind wir bemüht, diese Fähigkeit zu fördern – bei den Lehrpersonen und den Schüler:innen.

Jürg Berthold

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