Ein kalter Januarmorgen. Ich sitze im Zug auf dem Weg zur Arbeit. Am Bahnhof Meilen schaue ich zum Fenster hinaus und lese auf einem bemalten Waggon den folgenden Satz:
«Da ist so viel mehr als das, was uns geboten wird.»
O ja, der Satz ist richtig. Man soll sich nicht mit dem zufrieden geben, was einem auf dem Silbertablett präsentiert wird. Wenn man sich selber auf die Suche macht, wenn man sich selber auf Unbekanntes einlässt, ist es tatsächlich möglich, dass man durch neue Erfahrungen auf grossartige Art und Weise bereichert wird.
Der Satz der Graffiti-Sprayer war aber vielleicht anders gemeint: «Ihr bietet uns nicht alles an. Gebt uns das, was ihr uns im Moment noch vorenthaltet, und zwar subito.» Die Dynamik der kämpferischen Figur und das Feuer suggerieren auf jeden Fall, dass hier eine starke Forderung – vielleicht gar eine Drohung - formuliert wird. Wenn ihr uns nicht gebt, was wir wollen, holen wir uns das selber.
Dieser Gestus passt zum Jugendalter, in dem auch unsere Schülerinnen und Schüler sind. Dass die Konsumgesellschaft, in der wir leben, solche Erwartungshaltungen noch verstärken kann, ist bekannt und soll nicht einfach den Jugendlichen angelastet werden.
Unsere Aufgabe als Schule ist es, die Schülerinnen und Schüler so neugierig zu machen, dass sie sich selber auf die Suche machen, ganz im Sinne der ersten Deutung des Graffitis. Es geht uns nicht nur darum, dass die Lernenden sich viel Wissen aneignen, sondern darum, dass ein tiefes Interesse geweckt wird, das zu eigenen Fragen führt.
Was wir den Jugendlichen bieten, soll sie nicht satt machen, sondern hungrig nach dem, was im Lehrplan vielleicht gar nicht vorkommt. Als Schule wollen wir Gefässe schaffen, die eine solche Suche nach Neuem ermöglichen.
Ja, es gibt viel mehr als das, was die Lehrerinnen und Lehrer bieten. Es gibt auch das, was man sich aus eigenem Antrieb erarbeitet.
Martin Zimmermann
WB_1904