... und auf die es eine einfache, aber falsche Antwort gibt: «Ihr werdet das später im Leben brauchen.»
Nein, viel vom Stoff, den wir in der Mathematik am Gymnasium vermitteln, brauchen die meisten nie mehr. Auch der Verweis auf die unzähligen Anwendungen der Mathematik im Alltag greift zu kurz. Wer gerne Computerspiele spielt, kann das tun, ohne Vektorgeometrie zu verstehen. Wer sich an symmetrischen Blumenmustern auf seinem Pullover freut, braucht die Gesetze dahinter nicht zu durchschauen. Unsere Welt ist zwar von Mathematik durchdrungen. Doch um sich in ihr zurechtzufinden, reichen ein paar mathematische Grundkenntnisse.
Wozu also unterrichten wir Mathematik am Gymnasium? Über die Herbstferien habe ich ein Buch gelesen, das mir geholfen hat, meine persönliche Antwort darauf neu zu formulieren.[1] Geschrieben hat das Buch der Mathematikprofessor Francis Su, ehemaliger Präsident der Mathematical Association of America. Er hat mir klargemacht, wie die Frage meines Schülers zu verstehen ist. «Wozu soll das gut sein» heisse nicht «Wann werde ich das jemals brauchen?», sondern vielmehr: «Wann werde ich das jemals wertschätzen?» Mathematik muss demnach nicht unbedingt einen Nutzen haben, wohl aber einen Wert.
Für Su liegt dieser Wert darin, dass die Mathematik menschliche Bedürfnisse stillt, wie zum Beispiel jene nach Bedeutung, nach Spiel, nach Schönheit, Macht, Wahrheit und Beständigkeit. Jedem dieser Bedürfnisse widmet der Mathematiker ein Kapitel. Er richtet sich an alle, die schlechte Erfahrungen mit Mathematik gemacht und ihr deshalb desillusioniert den Rücken gekehrt haben – und natürlich auch an alle, die es bei ihren Schüler:innen nicht so weit kommen lassen wollen.
Immer wieder höre ich von Menschen in meinem Alter, wie schade sie es finden, die Mathematik nie für sich entdeckt zu haben. Sie ahnen, dass die Beschäftigung damit eine Bereicherung ihres Lebens sein könnte. Früher haben sie den Sinn nicht gesehen oder nicht daran geglaubt, in Mathematik erfolgreich sein zu können. Dabei, so Su, ist Mathematik für alle da. In ihrer weiten Landschaft gibt es für jede:n etwas zu entdecken, ob Teenagerin oder Grossvater.
Besonders beschäftigt hat mich das Kapitel zum Thema «Anstrengung». Auf den ersten Blick schien es mir reichlich anmassend, Anstrengung als Grundbedürfnis von Menschen zu betrachten. Ohne Anstrengung wäre das Leben doch besser, nicht?
Mittlerweile habe ich meine Meinung geändert. Erstens scheuen wir Anstrengung nicht: Kein Kind lernt zu laufen, ohne immer wieder hinzufallen, und doch wollen Kinder laufen lernen. Zweitens wächst Selbstvertrauen, wenn man eine Herausforderung meistert. Wem immer alles in den Schoss fällt, der kann seinen Durchhaltewillen nie trainieren. Die Willenskraft zu fördern, ist aber eines der Bildungsziele der Maturität. Anstrengung ist vielleicht nicht angenehm, doch wir Menschen wertschätzen sie.
Noch ein dritter Aspekt der Anstrengung scheint mir wichtig: Sie hat einen verlangsamenden Effekt. Die berühmte Mathematikerin Maryam Mirzakhani sagte einmal: «Ich bin eine langsame Denkerin und brauche viel Zeit, bevor ich meine Ideen aufräumen und Fortschritte machen kann.» Sich ruhig hinzusetzen und ein paar Minuten, mehrere Stunden oder Tage, ja vielleicht sogar Monate bis Jahre an einer Frage herumzudenken, ist in unserer beschleunigten Welt ein radikaler Akt. Deshalb bin ich kein Fan davon, mathematische Probleme unter Zeitdruck lösen zu müssen (wie es in der Schule leider oft geschieht).
Mathematik lehrt uns nicht nur abstraktes Denken und Logik. Sie antwortet auch auf Grundbedürfnisse des Menschen. Deshalb ist sie wertvoll – auch wenn sie vielleicht manchmal nutzlos scheinen mag. Soweit meine etwas längere, aber hoffentlich nicht falsche Antwort auf die Frage: «Und wozu soll das gut sein?»
Was ist deine Antwort?
Hanna Wick, Mathematiklehrerin
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https://www.francissu.com/flourishing