Leben im Zwischenraum

Zwischen… Was kann da alles entstehen? Gedanken dazu im aktuellen Wochenbrief.

Vor ein paar Jahren besuchte ich auf einer Polenreise mit Architekturstudent*innen der ETH in Warschau ein Haus. Damals waren mir die Tiny Houses noch kein Begriff. Aber das Gebäude, das da eingeklemmt in einen Spalt zwischen zwei elfgeschossigen Wohnblöcken der Nachkriegszeit über drei Etagen sich erstreckte, war mit weniger als 15 Quadratmetern Fläche definitiv Anwärter auf eines der schmalsten Häuser der Welt. An der breitesten Stelle ist es etwas mehr als ein Meter, an der engsten nicht viel mehr als schulterbreit. Bei der Grösse unserer Gruppe dauerte es, bis alle, immer einer aufs Mal, die Wohnräume besichtigt hatten, fast zwei Stunden, Zeit, sich Gedanken zu machen über den Reiz des «interstitional space».

Das Zwischen zeigt die Kraft des Begrenzten. Freiheit ist nicht das Gegenteil von Eingrenzung. Vielmehr entsteht sie im Umgang mit den Zwängen. Dabei lebt das Zwischen von dem, wodurch es definiert wird. Es ist weder das eine noch das andere, es entsteht im Freiraum und bildet einen Freiraum.

Zwischen den Unterrichtsblöcken können sich im Schulalltag auf ähnliche Weise unerwartet Freiräume bilden. Manchmal sind sie fix im Stundenplan eingelassen, selten weil es nicht anders ging, meist absichtlich, damit dort für einzelne Schüler*innen Instrumentalunterricht stattfinden kann. Manchmal, aus Schülerperspektive wie ein Geschenk aus heiterem Himmel, entstehen sie durch das Ausfallen einer Lektion, weil eine Lehrperson verhindert ist. Zwischenstunden entfalten ihren Reiz als Raum von Möglichkeiten, der für ganz Unterschiedliches genutzt werden kann. Da ist plötzlich Zeit, noch einmal für die Prüfung in der Folgelektion zu lernen. Oder man kann Hausaufgaben machen, so dass man bei Schulschluss alles erledigt hat. Oder man geht schon das Mittagessen einkaufen oder kann ausführlich tratschen, was man am Wochenende erlebt hat, oder eine Partie Schach spielen, wie ich es neulich beobachtet habe. In allen Fällen lassen die Begrenzungen kleine Freiheiten entstehen. Ähnlich wie im Warschauer Projekt kann man sich da häuslich einrichten und aufleben.

Zwischenstunden sind nicht einfach Leerstellen, sie gehören wesentlich zum Schulleben. In ihnen materialisiert sich eine Vorstellung von Schule, die nicht einfach nur von den gehaltenen Lektionen ausgeht. Vieles, was für das Lernen wichtig ist, passiert zwischen den Lektionen, ausserhalb des Unterrichts: im Gespräch mit einer Kollegin, die eine Physikaufgabe noch einmal erklärt, in der Auseinandersetzung mit den Kollegen über eine Lehrerbemerkung, die die Klasse empörte, im Weiterspinnen eines Projekts, das grad angefangen wurde, beim Suchen des Platzes in der Gruppe, die Tischtennis spielt.

Die Plattform der Zürcher Mittelschulen hat vor den Sportferien einen Kreativ-Wettbewerb zum Thema Zwischenstunde ausgeschrieben. Dem Vernehmen nach sind Schüler*innen der KUE für fast ein Dutzend der 140 eingegangenen Beiträge verantwortlich. Das Engagement freut mich sehr, haben sie doch im Freiraum zwischen den Unterrichtsverpflichtungen die Musse gefunden, um schreibend oder gestalterisch einen Zwischenraum auszufüllen. Bald werden die Resultate bekanntgegeben; die Prämierung findet am 22. April statt. Wir sind gespannt, ob es für einen Preis nach Uetikon reicht.

Jürg Berthold

Wochenbrief_21_15