Komplimente machen – und sie annehmen

Komplimente anzunehmen ist eine Kunst. Mehr dazu im Wochenbrief.

Bild: Lina Trochez, Unsplash

Vor ein paar Wochen war ich Zuschauer bei einer Deutschstunde, in der die Schüler:innen kreative Texte schreiben sollten. Die Lehrerin forderte die Gruppen am Ende der Schreibphase auf, einen Text auszuwählen, der anschliessend der Klasse vorgelesen werden sollte. Die Gruppe, die direkt neben mir arbeitete, entschied sich sofort für den Text einer Schülerin. «Mia, dein Text ist soooo toll, bitte lies ihn vor!» Die angesprochene Schülerin war sichtlich verlegen. Nach einer kurzen Pause sagte sie leise, aber doch gerührt: «Ich habe einfach nie gelernt, wie man mit Komplimenten umgeht.»

Die Aussage ging mir nahe. Ich drehte mich zur Gruppe und sagte: «Einfach danke sagen und wissen, dass Sie jedes Kompliment verdienen.» Diesen Rat habe ich selber erhalten und mir angewöhnt, so damit umzugehen. Lange habe ich bei Komplimenten versucht zu relativieren; ganz tief in mir steckt eine zwanghafte Bescheidenheit, aber auch eine Stimme, die mir ständig einredet, dass ich nie ganz zufrieden mit dem sein darf, was ich erarbeitet habe. Bei Komplimenten habe ich schnell den Verdacht, dass mir andere gut zureden, mir schmeicheln wollen – es gar nicht ernst meinen. Tritt dieses Gefühl permanent auf, spricht man vom Impostor Syndrome: Betroffene erleben sich als Hochstapler:innen. Sie bilden sich ein, ihren Erfolg nicht verdient zu haben und werten positive Rückmeldungen grundsätzlich ab.

Komplimente anzunehmen ist eine Kunst. Sie machen ebenso. In den letzten Jahren mussten einige Männer lernen, dass Komplimente nicht ganz unkompliziert sind. Das Erscheinungsbild von Frauen ungefragt zu loben wurde plötzlich als eine Art Übergriff gesehen, zumindest als unpassend. Viele verstanden nicht, weshalb man das so sehen kann – war ja nett gemeint, war eine positive Aussage. Margarete Stokowski hat das Problem prägnant erklärt:

«Es sterben zahlreiche Tier- und Pflanzenarten aus, aber das Kompliment hat bisher überlebt. Komplimente bleiben tatsächlich weiterhin möglich. Im Job dürfen Sie Frauen Komplimente machen, wenn sie gut gearbeitet haben, es ist ungefähr alles erlaubt, was nicht die Formulierung ‚als Frau‘ enthält: exakt dieselben Komplimente, die Sie auch einem männlichen Kollegen machen würden. So einfach. Mehr brauchen Frauen auch nicht.»

Gerade in Schulen braucht es viele Komplimente: Jugendliche müssen früh aufstehen, viel arbeiten und den Tag mit Menschen und in Räumen verbringen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Dabei werden sie ständig angeschaut und auf verschiedene Arten bewertet, nicht nur mit Noten, sondern auch mit Judgments. Dagegen helfen Komplimente: Sie zeigen Menschen, dass andere sie wahrnehmen, schätzen und merken, wie viel Aufwand sie betreiben. Jeden Tag. Deshalb meine Einladung an uns alle: Machen wir einander mehr Komplimente und nehmen wir sie an – im Wissen, dass wir sie wirklich verdient haben.

Philippe Wampfler

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