Jeden Tag wählen wir ein paar Kleidungsstücke aus unserem Kleiderschrank aus. Wir tun das zum einen aus praktischen Gründen, weil wir z. B. nicht frieren wollen. Wir tun es aber auch, weil es eine gesellschaftliche Norm ist, unseren Körper zu bedecken. Morgens stellt sich also nicht die Frage, ob wir uns anziehen, sondern was wir anziehen.
Ich mag es gerne schlicht und bequem. Die Farben und Stoffe müssen stimmen, damit ich mich wohl fühle. Aber es geht nicht nur ums Wohlfühlen, sondern auch um einen Stil, den wir nach aussen tragen. Je nachdem, was für Kleidung Menschen tragen, werden sie anders wahrgenommen: Ein junger Mann in Jeans, weissem T-Shirt, Sneakers und Wollmütze kommt anders daher als einer in Cowboyboots und Lederjacke. Über die Kleidung drücken wir Zugehörigkeit zu einer Gruppe aus und hinterlassen bei anderen einen Eindruck. «Kleider machen Leute» heisst die weit verbreitete Redewendung dazu, die ursprünglich aus einer Novelle von Gottfried Keller stammt. Kleider sind Teil unserer Identität. Besonders bei Jugendlichen spielt die Kleidung häufig eine grosse Rolle. Sie grenzen sich damit ab, drücken Zugehörigkeit aus, probieren verschiedene Stilrichtungen aus, und nicht selten sind sie tonangebend für neue Modetrends.
In unserem Alltag geht es bei Kleidung v. a. um Geschmack, Bequemlichkeit, Identifikation und den Preis. Was deren Geschichte ist, wie sie zustande gekommen ist und woher sie stammt, tritt in den Hintergrund. Den Spruch «Kleider machen Leute» kann man aber auch umdrehen zu «Leute machen Kleider»: Jeans, T-Shirts und Turnschuhe werden nicht in die Läden der Zürcher Bahnhofstrasse oder in die riesigen Versandlager von Zalando gezaubert. Sie werden meist im fernen Osten, in Bangladesch, Vietnam, China und Indonesien, von Näherinnen in höchster Präzision und in Windeseile in Serien hergestellt – Hunderte von Stücken pro Näherin pro Tag. Meist für einen tiefen Lohn mit kaum Sicherheiten am Arbeitsplatz.
Die globalisierte Welt hat den Konsum von der Produktion entkoppelt. Wir kaufen und wissen wenig über die Entstehungsbedingungen der Produkte von der anderen Seite der Welt. Im Geografieunterricht beleuchten wir diese entkoppelte Welt aus verschiedenen Perspektiven, versuchen, mehr zu erfahren über die Herstellung von Nike-Turnschuhen und H&M-T-Shirts. Ernüchternde Erkenntnisse finden da ihren Weg an die Schule. Davon gibt es im Geografieunterricht leider so einige: Armut und Hunger, Klimawandel, Naturkatastrophen, Ausbeutung, Kinderarbeit, Fluchtmigration. Da frage ich mich immer wieder: Wie viel Leid erträgt es in der Schule? Unser Ziel ist es schliesslich nicht, Sorgen und Hoffnungslosigkeit zu verbreiten. Es geht vielmehr darum, ein Bewusstsein für globale Zusammenhänge, Disparitäten und Ungerechtigkeiten zu vermitteln. Es ist unsere Aufgabe, die jungen Menschen auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten. Als erwachsene Person übernimmt man Verantwortung für sein Handeln und trägt zum Funktionieren der Gesellschaft bei. Je besser die Lernenden mit aktuellen Problemstellungen vertraut sind, desto einfacher wird es ihnen fallen, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Ihnen das Leid zu ersparen scheint mir deshalb sinnlos.
Die zentrale Frage lautet: «Wie schafft man es, die jungen Menschen mit ernüchternden Zusammenhängen zu konfrontieren, ohne ihnen die Freude und Hoffnung zu nehmen?» Ich würde antworten: «Indem wir der Ernüchterung die Zuversicht gegenüberstellen». Es gibt zum Glück auch positive Entwicklungen, die all den Negativschlagzeilen etwas entgegensetzen. Am Beispiel der globalisierten Modebranche könnten dies Schweizer Modelabels sein, die in Vietnam produzieren und sich vor Ort für gute Arbeitsbedingungen einsetzen. Oder die erfolgreiche Gründung von Gewerkschaften in Bangladesch, welche sich für die Rechte der Arbeiterinnen einsetzen und bessere Arbeitsbedingungen aushandeln. Es könnten auch innovative Projekte untersucht werden, die der Fast-Fashion entgegenwirken und die Langlebigkeit von Textilien ins Zentrum rücken.
Die Krux liegt also darin, die Jugend mit aktuellen Problemfeldern zu konfrontieren, ihnen dabei aber auch Wege aus der Misere aufzuzeigen und Zuversicht zu vermitteln. Niemand weiss, wie unsere Zukunft aussehen wird. Klar ist aber, dass das Handeln der jungen Menschen von heute bestimmend sein wird für die Welt von Morgen.
Catherine Robin
Wochenbrief_2123