Lehrpläne, zumindest wie sie für die Kantonsschulen verbindlich sind, sind weder Kochrezepte noch Partituren. Sie eröffnen Handlungsfelder und Möglichkeiten und geben Richtlinien vor, innerhalb derer eine Lehrerin oder ein Lehrer sehr viele Entscheide treffen muss. Um nur ein Beispiel zu geben: Man kann anhand ganz unterschiedlicher Gedichte in die Lyrik einführen – und fast noch stärker unterscheiden sich die methodisch-didaktischen Überlegungen. „Frei ist, wer in Ketten tanzen kann“, hat der Philosoph Friedrich Nietzsche einmal geschrieben: Ein Kollege hat die Spannung zwischen der festen Form eines Gedichtes, den Ketten gewissermassen, und seinem besonderen Rhythmus anhand dieses Zitates erfahrbar gemacht, indem die Schülerinnen und Schüler im Schulzimmer zum Gedicht zu tanzen versuchten. Wie verschieden ist dieser körperliche Zugang von anderen – ebenfalls möglichen – Arten des Einstiegs ins Thema!
Am vergangenen Freitag hat das ganze KUE-Team während eines Arbeitstages damit beschäftigt, wie sich die KUE weiter ein Gesicht geben kann. Dabei standen Fragen zur Schulkultur zur Diskussion, aber auch wie die erwähnten Spielräume im Rahmen des Leitbildes am besten genutzt werden können. Vieles, was im Selbstverständnis von Mittelschulen nämlich zentral ist, ist fürs Lernen wohl weniger wichtig, als wir denken – wenn nicht sogar kontraproduktiv: Prüfungen und Noten, Stoff und Stoffmenge oder der Stundenplan.
Dass der Stundenplan eine so wichtige Rolle spielt, hat neben organisatorischen Aspekten (der begrenzten Anzahl von Turnhallen etwa) darin seinen Grund: Es geht darum, die Zeit möglichst effizient im Hinblick auf die Vermittlung der Stoffmenge zu nutzen, damit diese dann geprüft werden kann. Die negativste Auswirkung dieser Art Unterricht ist das sogenannte «Bulimie»-Lernen: Man stopft den vermittelten Stoff in sich rein und kotzt ihn an der Prüfung wieder raus. Ein anderer Effekt dieser Sichtweise besteht darin, dass das konkrete Tun und die sinnliche Erfahrung oft zu wenig Raum einnehmen. Überall, wo dem nicht so ist – in den Fächern Bildnerisches Gestalten, Musik, Instrumentalunterricht oder Sport, die in der offiziellen Sicht dann entsprechend wenig zählen – oder in gesonderten Gefässe wie etwa Bio-Praktika oder Robotik zeigt sich der grosse Gewinn eines praktisch-entdeckenden Zugangs. Die Tatsache, dass die Maturaarbeit in den letzten mehr als zehn Jahren eine mehr oder weniger unbestrittene erfolgreiche Neuerung darstellt, hat damit zu tun: Sie funktioniert als Ventil für die skizzierte Situation.
Der Aufbau einer neuen Schule, die selbstverständlich vielfältigen Regulierungen unterworfen ist, hat auch etwas vom Versuch, trotz allem die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Und so hat am Weihnachtsball am vorletzten Schultag die Schule nicht nur im übertragenen Sinne getanzt – wenn auch alles andere als in Ketten. Die Fotos (verlinken),die unser Englischlehrer Yamin Zhai gemacht hat, vermitteln einen lebhaften Eindruck von der ausgelassen-fröhlichen Stimmung, die den Abend prägte.
Jürg Berthold, Prorektor
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