Elinor Ostrom wurde 2009 als erste Frau mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, gemeinsam mit Oliver E. Williamson. In ihren Studien hat Ostrom analysiert, wie sogenannte Allmendegüter - beispielsweise Fischgründe oder gemeinschaftliche Alpweiden - nachhaltig genutzt werden können.
Bis anhin herrschte die Meinung vor, dass bei Allmendegütern stets die Gefahr einer ökologisch und ökonomisch zerstörerischen Übernutzung besteht. Denn diejenigen, die Zugang zu Allmendegütern haben, handeln im Eigeninteresse und gegen die Nutzungsgemeinschaft und erschöpfen damit letztlich die Ressource. Dies wird als "Tragik der Allmende" bezeichnet und basiert auf dem etablierten Menschenbild des homo oeconomicus, wonach jeder rational und eigennützig handelt. Als Lösungsansätze zur Vermeidung der Übernutzung werden staatliche Regulierung und Privatisierung genannt.
Diese Theorie haben Elinor Ostrom und ihr Team über Jahrzehnte hinweg empirisch widerlegt. Sie dokumentierten mehr als 5000 Beispiele funktionierender Allmenden, von denen viele schon seit Jahrhunderten bestehen. Ob in den Fischereien von Maine, den Weiden in Schweizer Bergdörfern oder den Bewässerungssystemen Spaniens: Überall gelingt es Menschen, sich dezentral und unabhängig von externen Kontrollsystemen Regeln zu geben, um ihre Ressourcen nachhaltig zu bewirtschaften.
Dies ist eines der Beispiele, die Rutger Bregman in seinem neuen Buch «Im Grunde gut» beschreibt.
Im Grunde ist der Mensch gut: Zu diesem Schluss kommt der Historiker in seinem Werk mit dem Untertitel «Eine neue Geschichte der Menschheit». Darin hinterfragt er gängige Narrative und Menschenbilder anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse aus unterschiedlichen Forschungsgebieten und skizziert eine Fülle von Gründen, warum wir unser Selbstbild neu malen sollten.
Eine zentrale Aussage des Buches ist seine These, dass die «Fassadentheorie» schlichtweg falsch ist. Damit ist gemeint, dass der Mensch in seinem Verhalten nur eine dünne, durch Zivilisation und Kultur entstandene moralische Fassade besitzt, die seine egoistische und destruktive Natur verdeckt. In Krisensituationen und unter emotionalem Druck kann diese Fassade leicht zusammenbrechen, so dass amoralische und antisoziale Tendenzen die Oberhand gewinnen.
Deshalb lenkt er den Blick auf das, was normalerweise nicht in den Geschichtsbüchern steht: Dass Menschen einander in Katastrophen selbstlos helfen, wie etwa in Grossbritannien während des Zweiten Weltkriegs, beim Hurrikan Katrina 2005 in New Orleans oder in der Corona-Pandemie, als viele Formen der Nachbarschaftshilfe entstanden.
Für unseren Unterricht bedeutet dies, dass wir darauf achten, welche Menschenbilder und Narrative wir vermitteln.
Im fiktiven Literaturklassiker «Herr der Fliegen» von William Golding strandet eine Gruppe von Kindern auf einer Insel und muss allein überleben. Nach und nach greifen die Kinder zu mehr Gewalt und verlieren jegliches zivilisierte Verhalten.
Diese Geschichte hat sich auch im echten Leben zugetragen. Sechs Jugendliche aus Tonga im Südpazifik strandeten in den 1960er Jahren nach einem Sturm auf einer Insel namens ‘Ata. Nach 15 Monaten wurden sie gerettet.
Was war dazwischen geschehen? Die Jungen hatten keineswegs angefangen, sich gegenseitig abzuschlachten. Im Gegenteil, sie arbeiteten zusammen, lösten ihre Konflikte weitgehend konstruktiv und verliessen die Insel als Freunde.
Wahrscheinlich kennt kaum jemand die Geschichte der sechs Jugendlichen aus Tonga. Dagegen ist Goldings «Herr der Fliegen» ziemlich bekannt. In vielen Ländern gehört es zur Pflichtlektüre an Schulen, und viele einflussreiche Persönlichkeiten sollen sich an seinem negativen Menschenbild orientiert haben.
Bregman: «Das ist nur eine einzelne Geschichte und kein wissenschaftliches Experiment. Aber wenn Millionen Schüler:innen immer noch das erfundene «Herr der Fliegen» lesen müssen, dann erzählen wir ihnen doch auch diese wahre Geschichte.»
Denn die Geschichten, die wir hören und glauben, beeinflussen, ob wir die Natur des Menschen als grundsätzlich freundlich, unfreundlich oder irgendwo dazwischen betrachten.
Und diese Haltung prägt unser Denken, unser Handeln, unsere Politik und damit unser Zusammenleben.
Ich wünsche allen ein gutes und hoffnungsvolles Jahr 2024.
Karin Hunkeler
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