Im Schweizer Bildungssystem werden aussergewöhnliche Leistungen in der Regel nicht besonders gewürdigt. Der Blick richtet sich auf den Durchschnitt, herausragende Köpfe stören das Bild eher. Zu vermuten, dass dieser Zug der Bildungseinrichtungen im Zusammenhang mit dem politischen System steht, ist sicher nicht falsch. Unsere Gesellschaft ist im Kern auf Ausgleich, Kompromiss und das Betonen von Gemeinsamkeiten statt Unterschieden hin angelegt. Das hat viele Vorteile – vor allem, solange der Durchschnitt der Leistungen im internationalen Vergleich hoch ist. Akzeptiert ist Exzellenz am ehesten im Sport und im künstlerischen Bereich. Niemand wundert sich, dass für die K&S-Schule oder fürs Liceo Artistico neben der Aufnahmeprüfung noch andere Bedingungen zu erfüllen sind oder dass der Eintritt an Kunsthochschulen wie die ZHdK nur ganz wenigen Ausnahmetalenten gewährt wird.
Interessant ist, dass die heute noch gängige Rede vom Sitzenbleiben und vom Versetzt-werden am Ende des Semesters schulhistorisch mit dem Sichtbarmachen der Leistungen im Klassenzimmer zu tun hatte. Man konnte früher ja zum Teil an der Position, wo man sass, ablesen, wo auf der Leistungsskala man stand. Es wäre naiv zu glauben, dass mit dem Verschwinden dieser Praxis auch das Wissen darum, wer in welchem Fach wie gut ist, verschwunden wäre. Dass eine Fixierung auf die Noten verheerend ist, wurde in einem der letzten Wochenbriefe auch aus Schülersicht thematisiert. Wenn es hier um die Hervorhebung von exzellenten Leistungen geht, dann ist das verbunden mit der These, dass diese immer jenseits der notenmässigen Erfassung liegen. Sie stellen das Notensystem ebenso in Frage wie jene Schüler:innen, die unter dem Notendruck leiden.
Es gibt Ausnahmen zur Kultivierung des Durchschnitts, auch an der KUE. Da ist etwa die Hall of Fame, wo die besten Sportresultate der KUE-Geschichte für die unterschiedlichen Disziplinen vermerkt werden. Oder da sind die Auszeichnungen, die für herausragende Maturitätsarbeiten vergeben werden, dieses Jahr im Januar zum ersten Mal. Schon dass man für einen Preis vorgeschlagen wird und eine grosse Jury sich mit der Arbeit beschäftigt, ist etwas Besonderes. Es macht deutlich, dass eine Arbeit den üblichen Bewertungsrahmen sprengt. Umso mehr die eigentliche Auszeichnung – auch wenn die Prämierung letztlich nicht aufgrund objektiver Messungen erfolgen kann. Die bemerkenswertesten Auszeichnungen erfolgen aber ausserhalb der Schule, wenn einzelne Schülerinnen und Schüler der KUE an einer der Wissenschaftsolympiaden teilnehmen und sich zum Teil über mehrere Runden hinweg qualifizieren – bis hin zur Ehre, irgendwo im Ausland auf Schüler:innen aus aller Welt treffen zu dürfen, wie dies Lucio Ineichen an der diesjährigen Physik-Olympiade geschafft hat. Eine institutionalisierte Form der Förderung besonderer Leistungsbereitschaft gibt es auch im sogenannten Schülerstudium, einer Kooperation der Zürcher Mittelschulen mit der Universität Zürich: Immer zwei des vorletzten oder letzten Jahrganges können von uns ausgewählt werden und dürfen dann während eines Semesters schon Uni-Luft schnuppern – in einem ausgewählten Kurs zusammen mit Studierenden des betreffenden Faches.
All diesen Formen des Aussergewöhnlichen (auch dort, wo sie nicht von Auszeichnungen gekrönt sind) ist gemeinsam, dass sie keineswegs selbstverständlich sind – weder in Bezug auf die Leidenschaft und den zeitlichen Aufwand noch hinsichtlich des Engagements, der Anstrengung oder allfälliger Entbehrungen. Die Welt (und nicht nur der Wirtschaftsstandort Schweiz) braucht Menschen, die sich auf diese Weise voll und ganz einbringen und die bereit sind, mehr zu tun als das, was es braucht, um sich irgendwo bequem einzurichten. Arbeitsfelder gibt es genug. Als KUE wollen wir den jungen Menschen nicht nur helfen, ihr Betätigungsfeld zu finden, sondern ihnen auch vermitteln, dort dann Ausserordentliches zu geben.
Jürg Berthold
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