Im letzten Jahr vor meiner Matura belegte ich einen Kurs zur Sowjetunion. Das war 1981. Der Geschichtslehrer, der ihn ausgeschrieben hatte, war eine charismatische Persönlichkeit und beeindruckte uns auch durch sein Wissen, seine sprachliche Präzision und seine menschliche Wärme. Er vertrat allerdings auch klare politische Meinungen, mit seinen Einschätzungen hielt er nicht hinter dem Berg. Ein «Kalter Krieger» war er, wie man solche Leute damals etwas despektierlich nannte, also jemand, der in der Auseinandersetzung klar auf der Seite von Freiheit und Kapitalismus stand. Die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden scheute er nicht, und davon gab es unter uns Jugendlichen zur Zeit von Züri brännt genug. Wir konnten uns an ihm reiben, und er verstand sich nicht als Fähnchen im Wind jugendbewegten Zeitgeistes.
Eines Tages kam er triumphierend in die Klasse und las eine Ansichtskarte vor. Ein ehemaliger Schüler hatte ihm aus Moskau geschrieben. Der Schüler bedankte sich überschwänglich, dass er ihm die Augen über die Sowjetdiktatur geöffnet hätte. Die Karte war der Beweis, dass das, was er lehrte, richtig war. Wir nahmen es staunend zur Kenntnis. Einige Wochen später kam er mit einer zweiten Ansichtskarte, wiederum mit einem Foto vom Roten Platz: Das sei alles ironisch gewesen. Nichts von dem würde stimmen, es sei ganz anders. Im Kurs damals sei er betrogen worden, so der Schüler aus Moskau. Auch diese Karte las der Lehrer vor – sozusagen zur Vervollständigung der Quellenlage und mit der Bemerkung, wir sollen uns selbst eine Meinung bilden. Zerknirscht war er aber schon.
Diese Situation kam mir wieder in den Sinn, als ich letzte Woche ein Podiumsgespräch mit Sylvia Sasse, Professorin für Slawistische Literatur an der Universität Zürich, moderiert. Sasse sprach über Putin und den Krieg, über die Unterdrückungs-, Propaganda- und Kontrollmechanismen und wie viele davon schon in der Sowjetzeit entwickelt worden seien. Die Linke sei damals ja blind gewesen dafür.
Zwei Aspekte, die die Auffassungen von Unterricht betreffen, finde ich an dieser Erinnerung wichtig. Im Unterricht geht es oft ebenso sehr um Haltungen wie um Inhalte. Das merkt man, wenn Schüler:innen bei Lehrpersonen betonen, dass sie sie gerecht finden, dass sie sich wahrgenommen fühlen oder dass sie deren Engagement schätzten. Jener Geschichtslehrer prägte uns nicht so sehr durch das, was er lehrte und von seinen politischen Einstellungen preisgab; was mich prägte war seine Haltung. Dass er die zweite Karte nicht verschwieg, flösste mir grossen Respekt ein. In seiner Redlichkeit im Umgang mit der Realität finde ich ihn heute noch vorbildlich.
Zum anderen konnte man jenen Lehrer fassen, er hatte ein Gesicht und versteckte sich nicht hinter neutralen Formulierungen. Heute wird das oft aus Angst vor einer möglichen Beeinflussung abgelehnt. Aus meiner Sicht war es anders: Man konnte sich an ihm reiben, lehnt sich gegen ihn auf und argumentierte mit ihm. In der Auseinandersetzung lernte man, dass man informiert, klug und rhetorisch überzeugend sein musste, wenn man eine Chance haben wollte.
Deshalb geht es bei Unterrichtsentwicklung zwar auch um Methoden, Themen, Gefässe, Räume und Zeitformate. Am wichtigsten ist aber, dass wir gemeinsam an unseren Haltungen arbeiten: dem Unterrichten, dem Lernen, den Noten – letztlich den Schüler:innen gegenüber. Deshalb kann der Aufbau der Schulkultur nicht von heute auf morgen geschehen und deshalb braucht es Geduld und einen langen Atem.
Jürg Berthold
WB_06_2024