Halbvolle und halbleere Gläser

Müssen Lehrpersonen von Berufes wegen optimistisch gestimmt sein? Gedanken dazu im aktuellen Wochenbrief.

Die Frage, ob Lehrpersonen professionelle Optimist:innen sein sollten, wurde neulich im privaten Kreis intensiv diskutiert. Auf der Pro-Seite wurden im Wesentlichen drei Punkte hervorgehoben. Lehrpersonen mit einer optimistischen Grundhaltung könnten ihre Schüler:innen eher motivieren und inspirieren. Ein positives Mindset wirke ansteckend, es schaffe eine förderliche Lernatmosphäre. – Hohe Erwartungen und eine positive Einstellung gegenüber den Schüler:innen, so der zweite Punkt, könnten dazu beitragen, dass Lehrpersonen deren Potenzial sehen und fördern. Ein dritter Punkt bezog sich auf die Auswirkungen auf die Lehrpersonen selbst: Optimismus sei mit besserer Stressbewältigung und höherer Resilienz verbunden. Da der Lehrberuf oft herausfordernd ist, könne eine optimistische Haltung helfen, Schwierigkeiten zu bewältigen und langfristig gesund zu bleiben.

Diesen Argumenten wurde entgegengehalten, dass der Realitätsbezug wichtiger sei als blinder Optimismus. Lehrpersonen sollten nicht zwanghaft optimistisch sein, sondern realistisch. Es gebe strukturelle Probleme im Bildungssystem und Herausforderungen durch soziale Ungleichheit. Es gebe auch individuelle Grenzen der Schüler:innen. Eine optimistische Sicht allein reiche nicht aus, um diese Herausforderungen zu bewältigen. – Die individuelle Förderung der Schüler:innen erfordere Empathie, und diese beinhalte auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Realität. Lehrpersonen, die nur Optimismus vermitteln, könnten die Probleme von Schülern:innen oder des Systems nicht ernst genug nehmen. Auch dem auf die Lehrpersonengesundheit bezogenen dritten Punkt wurde widersprochen: Gerade übersteigerter Optimismus könne das Burnout-Risiko fördern. Wer glaubt, durch Optimismus allein alle Herausforderungen meistern zu können, könne langfristig enttäuscht werden. Überhöhte Erwartungen an den eigenen Einfluss würden zu Frustration führen.

Am Ende waren wir bei einem Sowohl als Auch. Lehrpersonen sollten eine grundsätzlich positive unterstützende Haltung haben. Aber das bedeutet nicht, dass sie in jeder Situation optimistisch sein müssen. Realismus gepaart mit wertschätzender Ermutigung, so das Fazit der kleinen Runde, ist vermutlich der beste Weg, um den Schülern:innen und sich selbst gerecht zu werden.

Interessant waren für mich auch Bemerkungen am Rande. Lehrpersonen sollten nicht nachtragend sein, wurde etwa gesagt. Optimismus bedeutet nämlich auch, den Schüler:innen immer wieder eine neue Chance zu geben, Neuanfänge zu ermöglichen. Lehrperson sollten verbindlich und konsequent sein. Wenn sie aber in einem entscheidenden Moment trotzdem fünf gerade seinlassen können – so ein zweiter Punkt –, dann kann das als Ausdruck von Optimismus verstanden werden. Und zum Schluss: In Situationen, die unklar sind, spricht vieles dafür, das Glas eher halbvoll als halbleer zu sehen – nicht als Ausdruck von Optimismus, sondern als Umgang mit Ambivalenzen.

Jürg Berthold

WB_13_2025