Gute Karten

Vom Können, von Glück und Willkür lesen Sie im Wochenbrief.

Jassen ist ein grossartiges Spiel. Ich war immer beeindruckt von Personen, die genau wissen, wie das Spiel läuft. Gute Jasser:innen haben einen wunderbar klaren Sinn für das Gesamtsystem der 36 Karten.

Jassen ist deshalb ein grossartiges Spiel. Trotzdem ärgern mich auch immer wieder die Regeln, welche mit einer völligen Willkür Punkte verteilen für Dinge, die man nicht beeinflussen kann. Weshalb zählen die Punkte doppelt, wenn Schilten Trumpf ist? Warum zählt ein Dreiblatt, das man einfach mit Glück bekommen hat, beim "undenufe" dreimal mehr, als wenn Rose Trumpf ist?

Spiele bereiten Jugendliche auf das Leben vor, heisst es manchmal. Wenn man Jassen so versteht, lernen sie also auch, dass es nicht immer Eigenverdienst ist, wenn man gewinnt. Man ist abhängig von äusserlichen Bedingungen und Festlegungen.

Gilt das nicht auch für die Schule? Schulischer Erfolg ist nicht nur die Folge von Einsatz und Können. Diese Aussage kann gerade uns Lehrpersonen am Gymnasium ins Grübeln bringen.

Anfangs der 70er Jahre publizierten Theo Ruff und Peter K. Wehrli eine Sammlung mit Texten von Schweizer Schriftsteller:innen. Sie brachten die Anthologie aber nicht auf den Markt, sondern verteilten sie gratis. Darin findet man auch ein Gedicht von Peter Lehner, der als Lehrer und Werbetexter gearbeitet hat.

ich frage mich kind
soll ich dir das fell bleuen
damit es dick wird
soll ich dir den bückling beibringen
und mach schön männchen
und duck dich
damit du später als mann
deinen mann stellst
oder soll ich rasch mal die welt ändern

Mir scheint, dieser Text lasse sich nicht nur auf die Erziehungsarbeit von Eltern beziehen. Von uns Lehrpersonen wird Klarheit und Transparenz verlangt, und wir sollen in den Beurteilungen der Schülerinnen und Schüler gerecht sein. Aber die Welt, auf die wir die Jugendlichen vorbereiten, entspricht nicht diesen Idealen. Wir alle müssen mit Ungerechtigkeiten leben lernen und Willkür aushalten können.

Damit plädiere ich selbstverständlich nicht für mehr Willkür in der Schule. Ich weise nur darauf hin, dass wir als Schule viele Ideale hochhalten wollen, dass es aber auch Faktoren für den schulischen Erfolg gibt, auf die wir keinen Einfluss haben.

Martin Zimmermann

Wochenbrief_2409