Vom britischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott (1896-1971) stammt das Konzept des «Übergangsobjekts»: Kleinkinder klammern sich an ein Kuscheltier, ein Nuschi oder sonst einen Gegenstand, um die Abwesenheit der wichtigen Bezugspersonen zu überbrücken. So fühlen sie sich sicher, wenn sie für eine bestimmte Zeit allein sind. Diese kleinkindliche Phase haben unsere Schülerinnen und Schüler natürlich längst hinter sich. Trotzdem ist immer wieder zu beobachten – etwa bei Prüfungen –, dass mitgebrachte Gegenstände aufgestellt werden. Diese erfüllen wohl eine ähnliche Funktion wie jene frühen Übergangsobjekte: In der Gestalt des Glücksbringers ist der Schutz der Eltern da, obwohl diese nicht direkt helfen können. – Wir Lehrpersonen tun gut daran, uns nicht über den vermeintlichen Aberglauben zu wundern oder gar lustig zu machen, sondern das als Variation jenes ursprünglichen Mechanismus und als Bewältigungsstrategie anzuerkennen.
Winnicotts berühmter Satz «There is no such thing as a baby» meint, dass man ein Baby nur im Verhältnis zu seiner Mutter, allgemeiner zu seinen Bezugspersonen, verstehen und erforschen kann. Es ist keine für sich bestehende Einheit, sondern ist in seinem Um und Auf ganz von den mehr oder weniger verlässlichen Bindungen an die wichtigsten Menschen in seinem Leben bestimmt. Analog dazu könnte man sagen: «There is no such thing as a student», dass es also keine Schülerinnen und Schüler ohne Lehrpersonen gibt. Eine Schülerin ist so, wie sie ist, immer in Beziehung auf die konkreten Lehrpersonen. Das mag erklären, warum der gleiche Schüler bei der einen Lehrperson so und bei der anderen so ist, so dass in Gesprächen bisweilen der Eindruck entsteht, als handele es sich um zwei verschiedene Menschen. – Wir Lehrpersonen tun gut daran, die Beobachtungen solcher Unterschiede nicht allein durch die unterschiedlichen Vorlieben für die Fächer und den daraus resultierenden Leistungen zu erklären, sondern sie auch als Ausdruck einer Beziehungsdynamik zwischen uns und ihnen zu verstehen. Das heisst, dass wir die Rolle, die wir in dieser Dynamik spielen, möglichst gut durchschauen und allenfalls versuchen müssen, sie zu ändern.
Auch ein drittes Konzept – ebenfalls für die Mutter-Kind-Beziehung entwickelt – lässt sich vielleicht auf die Schule übertragen. Eine Mutter (oder allgemeiner eine Beziehungsperson) müsse nicht perfekt sein. Auch eine Schulung im Hinblick auf die Elternschaft sei nicht nötig. Aber sie müsse «good enough» sein. Damit wandte sich Winnicott einerseits gegen Überhöhungen der Mutterrolle, die sich aus der psychologischen Beschäftigung mit ihr ergeben hatten. Andererseits wollte er dem Missverständnis vorbeugen, dass die Elternarbeit professionalisiert werden müsste. «Gut genug» bedeutet: «Die Mutter, die gut genug ist, passt sich aktiv an die Bedürfnisse des Säuglings an, eine aktive Anpassung, die allmählich abnimmt, je nach der wachsenden Fähigkeit des Säuglings, das Scheitern der Anpassung zu erklären und die Folgen der Frustration zu ertragen.» Auch das Konzept des «Good enough» kann uns etwas aufzeigen – und dies, ohne unsere Ausbildung zu schmälern und die Bedeutung professionellen Handelns herunterzuspielen. – Wir Lehrpersonen tun gut daran, uns immer wieder zu fragen, worauf es pädagogisch wirklich ankommt und was die zentralen Dinge sind. So soll, was man im Unterricht behandelt, in einem sinnhaften Zusammenhang stehen und nicht als Selbstzweck erscheinen; es sollen Fenster in viele Richtungen aufgehen, frischer Wind durchs Klassenzimmer wehen. Schule soll Zuversicht vermitteln und nicht entmutigen, und wir müssen geduldig sein und Gelassenheit ausstrahlen. Die Schülerinnen und Schüler brauchen Lehrpersonen, die sie möglichst als Individuen wahrnehmen, und sie wollen korrekt und gerecht behandelt werden. Sie schätzen Lehrpersonen, die auch als Menschen vor ihnen stehen. Wenn dies gegeben ist, was weder einfach noch selbstverständlich ist, so ist es in meiner Erfahrung gut genug.
Jürg Berthold
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