Seit dem 15. April sind die ersten Vorschläge zur Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität (WEGM) zugänglich, und zwar auf https://matu2023.ch. Wir haben mit Spannung darauf gewartet, seit dieses Projekt gestartet worden ist. Nach einem ersten Augenschein kann ich die folgenden provisorischen Einschätzungen machen.
Grundsätzlich gilt sicher Folgendes: Eine gründliche Reform des Maturitätsanerkennungsreglements (MAR) ist angezeigt und begrüssenswert, und zwar mindestens aus den folgenden drei Gründen.
- Die Aufgaben der Gymnasien haben kontinuierlich zugenommen (z.B. neue Fächer wie Einführung in Wirtschaft und Recht oder Schulungen in den üblichen Computerprogrammen, Präventionsveranstaltungen etc.), die Ressourcen wurden aber kleiner (Verkürzung, Vorverlegung der Matur etc.).
- Die Studienangebote der Hochschulen haben sich in den letzten Jahren vervielfacht, die Gymnasien müssen die Schülerinnen und Schüler auf sehr unterschiedliche Studiengänge vorbereiten.
- Die digitalen Möglichkeiten entwickelten sich in den letzten Jahren bekanntlich enorm. Dass alle möglichen Informationen sehr leicht für alle zugänglich geworden sind, hat Konsequenzen für den gymnasialen Unterricht.
Ich freue mich deshalb, dass die neuen Vorschläge über eine blosse Reform von Details hinausgehen. So begrüsse ich die Idee, dass die vier gymnasialen Jahre in eine Grund- und in eine Vertiefungsstufe aufgeteilt werden. In den letzten zwei Jahren sollen die Schülerinnen und Schüler stärker die Fächer und Themen auswählen können, in denen sie wirklich in die Tiefe gehen möchten.
Dies ist allerdings aus meiner Sicht nur möglich, wenn man die Anzahl der Fächer reduziert. Die Vorschläge der Projektgruppe machen das Gegenteil. Neben der Informatik, die obligatorisch wird, kommen Philosophie und eventuell Religion hinzu. Beide Fächer haben zweifellos grosses Potenzial, wichtige Fragen zu behandeln. Wenn aber in den ersten beiden Jahren des Gymnasiums in 15 Fächern die Grundlagen gelegt werden sollen, wird dies nicht sinnvoll möglich sein.
Wer Erfahrung im Unterricht von Jugendlichen hat, weiss, dass die Entstehung von Wissen und Kompetenzen Zeit braucht und dass vor allem viele Erkenntnisse ausserhalb oder am Rande der Lektionen erlangt werden. Themenwochen, Studienreisen, Projekte etc. sind neben dem Regelunterricht enorm wichtig. Für solche Aktivitäten bleibt aber kaum Platz, wenn zum Beispiel die Biologie in der Grundstufe (erste zwei Jahre) für diejenigen abgeschlossen werden soll, die in der Vertiefungsstufe auf Biologie verzichten.
Der «Bildungsaufbau» bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten verläuft nicht nach dem Baukastenprinzip («was einmal gelehrt wurde, bleibt für immer und ewig»). Die Jugendlichen erwerben zwar laufend Kenntnisse und Kompetenzen, entscheidender ist aber, dass sie im Verlauf ihrer Schulzeit auch eine Persönlichkeit entwickeln, die für das erfolgreiche Bestehen eines Studiums eine zentrale Voraussetzung ist. In den Vorschlägen zur Reform wird diesem Aspekt denn auch eine wichtige Rolle zugeordnet, und zwar einerseits unter dem Stichwort der überfachlichen Kompetenzen, aber auch im Sinne der «vertieften Gesellschaftsreife», über die Maturandinnen und Maturanden verfügen sollen.
Ich befürchte aber, dass man diesen kaum überprüfbaren Kompetenzen im konkreten Schulalltag weniger Beachtung schenken wird, weil der Stoffdruck vergrössert wird – durch neue Fächer und durch strengere Bestehensbedingungen bei den Abschlussprüfungen.
Man darf nun gespannt sein, wie die WEGM-Vorschläge diskutiert und wie sie anschliessend von der Projektgruppe modifiziert werden, bevor sie in einem guten Jahr in eine breite Vernehmlassung gegeben werden.
Martin Zimmermann
PS: Mit Freude habe ich vom Projekt «ganzohni» (https://ganzohni.ch) aus Stäfa gelesen, das am 17. April eröffnet wird/wurde. Und stolz war ich zu sehen, dass Jule Herzog aus dem 3d dort ganz tatkräftig mitmacht. Ich wünsche viel Erfolg!