Feldforschung

Was wir unterrichten, soll die Schülerinnen und Schüler beissen und stechen. Wie das gemeint ist, lesen Sie im aktuellen Wochenbrief.

Als Schulleiter hat man das Privileg, regelmässig Lektionen in allen möglichen Fächern besuchen zu dürfen. Wie viel besser viele Lehrpersonen unterrichten, als ich das erlebt habe, denke ich oft. Wie viel strukturierter, anschaulicher, aktueller die Themen dargeboten werden, wie engagiert die Lehrpersonen sind! Und wie interessant das alles sein kann, was einem da so selbstverständlich serviert wird! Ich sehe auch, wie klug die Antworten der Schüler:innen oft sind, und freue mich, wenn eine Diskussion so richtig in Fahrt kommt.

Natürlich sehe ich auch anderes: etwa, dass sie vor lauter Details – und der Angst, dass diese in einer Prüfung relevant sein könnten – das grosse Ganze nicht zu sehen vermögen. Oder dass die Schüler:innen ringen mit der Frage nach dem Wozu. Ich freue mich, wenn es einem Lehrer gelingt, mit einer kleinen Bemerkung, einem Thema einen Drall zu geben, so dass die Frage nach dem Sinn verblasst. Oder wenn eine Lehrerin sich nicht in technisch anmutenden Kleinigkeiten verliert, sondern relevante Fragen ins Zentrum rückt. Selbstverständlich kann nicht jede einzelne Lektion einen direkten Bezug zur Lebensrealität haben. Für Jugendliche ist die Erfahrung wichtig, dass die Schule ihnen hilft bei der Suche nach einem Weg durchs Leben und sie unterstützt bei der Orientierung in der Welt. Schule soll mehr sein als eine Anlage zum Einüben der Abschlagtechnik.

Für mich als Deutschlehrer mag es einfacher sein die Bedeutsamkeit einer Lektüre herauszuarbeiten. Tua res agitur!, Es geht um dich! ist meist ein anstrebenswertes Ziel, wenn es um Literatur geht. Wenn ich aber die Entwicklung meines eigenen Unterrichts anschaue, muss ich feststellen, dass ich mich an diesem Ziel nicht immer gleich konsequent orientiert habe. Ich meinte, Dingen viel Raum geben zu müssen, weil sie im Lehrplan aufgelistet sind. Oder weil andere das gemacht haben oder weil ich es selbst während der eigenen Schulzeit so gelehrt bekommen hatte. Wie würde ein Literaturunterricht aussehen, der sich an folgendem Zitat von Franz Kafka orientieren würde?
 
“Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”

Was könnten die anderen Fächer von solchen «stechenden» Lektüren lernen? Was würde es bedeuten, wenn die Schüler:innen «geweckt» würden, wie es heisst? Oder wenn etwas aufbrechen würde im Unterricht? Wie das «gefrorene Meer», von dem Kafka spricht?
Neulich traf ich eine befreundete Ethnologin, die in London für ihre Doktorarbeit die Feldforschung in Indien vorbereitet. Sie erklärte mir, dass sie sich nun gut zwei Jahre lang eingelesen habe und bald aufbreche. Das Schwierigste sei jetzt, das Verlernen zu lernen. Man müsse sich von allem zu lösen versuchen, was man wisse oder zu wissen meine. Nur so könne man sich einlassen auf das, was einem begegne. Vielleicht könnten wir Lehrerinnen und Lehrer uns an diesem Verfahren des Verlernens orientieren. Warum nicht ins Klassenzimmer gehen wie diese Ethnologin ins Feld?

Jürg Berthold

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