Darf sich eine Lehrperson im Unterricht zu politischen Themen äussern und Farbe bekennen? Darf ein Offizier einen Aufsatz mit Argumenten zur Abschaffung der Armee publizieren? Darf ein Pfarrer an einer Podiumsdiskussion die Kirchenobrigkeit kritisieren? – Dass dies heikle Frage sind, hat schon der Aufklärer Immanuel Kant gesehen. Der kurze Text Zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? ist noch immer äusserst lesenswert, und das nach mehr als 200 Jahren. Kants Antwort ist sehr bestimmt: Bei Äusserungen in Ausübung eines Amtes müssen klare Grenzen gezogen werden. Man äussert sich nämlich nicht als Privatperson, man ist Teil einer Institution, zu deren Werten man sich bekennen muss. Deshalb ist man nicht frei. Anders, so Kant, in der Freizeit: Da besteht die Freiheit, ja sogar die Verpflichtung, in der Öffentlichkeit mit rationalen Argumenten für seine Position einzustehen, ganz gemäss dem Wahlspruch "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Kants Antworten auf die obigen drei Fragen lauten also: einmal Nein und zweimal Ja (sofern das in neutraler Kleidung geschieht).
Diese Unterscheidung ist immer noch ein sehr guter Massstab, gerade auch für die Schule. Eine Lehrperson soll sich bewusst politischer Bekenntnisse enthalten. Sie soll die Dinge auf den Tisch legen, damit die Schüler*innen zu einem eigenen Urteil kommen, und zwar aus der erwähnten Grundsatzüberlegung. Gleichzeitig sprechen auch didaktische Gründe dafür, denn anders bringt man Schüler*innen gar nicht zum Selberdenken.
Warum uns das hier kümmern muss? Weil diese Woche Fridays-for-Future zum Klimastreik aufruft. Seit es die Bewegung gibt, befindet sich die Schule in einem Zwiespalt: Sie muss sich aus den erwähnten Gründen als Institution neutral zeigen. Sie muss auf der Präsenzpflicht bestehen, die ihr durch die gesetzlichen Regelungen vorgegeben sind – auch wenn diese aus einer Vorcoronazeit stammen, als «Präsenzunterricht» noch etwas anderes bedeutete. Paradoxerweise verleiht die Schule gerade dadurch, dass sie auf der Einhaltung der Präsenz besteht, der Schulstreikidee Kraft. Ein Streikender, der von einem Jokertag Gebrauch macht (was möglich wäre), erscheint als Karikatur von politischem Aktivismus.
Gleichzeitig – und darin besteht das Dilemma – versteht sich die öffentliche Schule in der Schweiz als der Rationalität der Aufklärung und den Wissenschaften verpflichtet. Deshalb ist, anders als in weiten Teilen der USA, Darwins Evolutionstheorie im Biologieunterricht alternativlos. In diesem Sinne ist die Frage der Klimaerwärmung und ihrer Folgen zunächst auch kein politisches Thema, sondern Gegenstand des Unterrichts: in Geografie natürlich, aber auch in Biologie im Zusammenhang mit ökologischen Fragen und dem Sechsten Artensterben oder in Geschichte, wenn es um die Herausforderungen der Gegenwart und die historischen Wurzeln des Anthropozäns geht.
Es werden zwar immer wieder systematisch Zweifel geschürt, aber es ist ein Fakt: Der Konsens in der Forschung ist (leider) überwältigend. Deshalb unterscheidet sich die Klimabewegung im Kern von allen früheren Jugendbewegungen. Unvergessen das Bild von Streikenden in Labormänteln, an die sie sich Ausdrucke von wissenschaftlichen Publikationen gepinnt hatten! Das ist auch der Grund für das bemerkenswerte Urteil des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts, das in seinem historischen Entscheid Ende April die besondere Situation in aller Deutlichkeit anerkannt hatte. Dass alle möglichen ideologischen Süppchen auf diesem Glutkern gekocht werden, geschenkt! Der Verweis darauf lenkt nämlich vom eigentlichen Problem ab.
Kants Unterscheidung kommt hier an eine Grenze: Sie geht davon aus, dass die Institutionen intakt sind und den Bestand garantieren. Sicher, es gab auch für Kant Unvollkommenes und Ungerechtes noch und noch. Was er aber kaum kennen konnte, ist die Erfahrung, dass – wie in den totalitären Systemen – eine ganze Gesellschaft auf Abwege geraten kann. Deshalb bedachten jene, die das Grundgesetz nach 1945 ausformulierten, Ausnahmen zur oben formulierten Regel: Wenn Institutionen sich selbst gefährden, darf man nach deutschem Beamtenrecht nicht nur die Stimme erheben, man ist sogar dazu verpflichtet – von aussen und von innen. Die Entscheidung, ob eine solche Situation vorliegt, müssen wir alle – Schüler, Lehrer, Eltern – selbst treffen. Es ist eine jener Gewissensfragen, von denen Kant sagte, dass wir erst durch sie menschliche Wesen sind.
Jürg Berthold
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