Was wäre, wenn nicht Alain Berset für das BAG zuständig wäre? Würde eine Frau eine andere Politik betreiben? Hätte jemand aus einer anderen Partei grundverschiedene Schwerpunkte gesetzt?
Solche Fragen beschäftigen im Moment die ganze Schweiz. Wir sind verunsichert und möchten, dass diejenigen Personen entscheiden, von denen wir glauben, sie vertreten unsere Interessen. Dabei lieben wir die Vorstellung, diese Leute könnten zielgenaue Massnahmen treffen, die dann auch die gewünschten Effekte tätigen.
Wenn man – wie alle KUE-Angehörigen im letzten Monat – in Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ liest, spürt man die Vorstellung ganz stark, dass Einzelpersonen kraft ihres Willens und ihrer Tatkraft die Geschichte entscheidend beeinflussen können. Allerdings sind in Zweigs Geschichten die handelnden Männer von der jeweiligen historischen Konstellation abhängig. In seinem Verständnis kann nur dann etwas Grosses geschehen, wenn die Zeit reif ist, wenn sich vorher etwas entwickelt hat, das zu einem bestimmten Zeitpunkt aufleuchten darf.
Die Männer – ja, es sind ausschliesslich Männer –, deren Geschichte Zweig beschreibt, müssen aber in der gegebenen Situation richtig reagieren. Wenn sie das nicht schaffen, kann Zweig streng sein. Er spricht dann von „Versagen“. Tun die Männer aber das Richtige, sind sie Helden.
Vermutlich ist unser Bild des Einzelnen in der Geschichte anders geworden. Nicht nur, dass wir auch das Wirken von Frauen stärker in den Blick nehmen, wir wissen auch, wie komplex die grossen Entscheidungen geworden sind. Wir glauben nicht mehr an die einsame Wirkungskraft von einzelnen grossen Geistern, die den Weltenlauf bestimmen.
Die Dokumentation „The social dilemma“ bringt uns sogar ins Zweifeln. Sind wir Marionetten der Medien, die wir benutzen? Wird unser Denken durch Algorithmen gelenkt?
Als schweizerisches Gymnasium sind wir dem Artikel 5 des Maturitätsanerkennungsreglements verpflichtet. Dort ist die Rede von „geistiger Offenheit“ und der „Fähigkeit zum selbständigen Urteilen“, die gefördert werden müssen. Das soll den gymnasialen Unterricht prägen. Wir wollen unsere Schülerinnen und Schüler dazu bringen, Fragen zu stellen, Neues zu entdecken und eigene Positionen einzunehmen.
Das ist gerade in der aktuellen Situation besonders wichtig. Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die versuchen, sich umfassend zu informieren und die sich über das Entstehen ihrer Überzeugungen Rechenschaft ablegen wollen. Wir brauchen mündige Personen, die entsprechend ihrem Wissen Verantwortung übernehmen.
Solche Menschen werden die Massnahmen des Bundesrats beurteilen und allenfalls kritisieren, sie werden aber auch ihre eigene Position reflektieren.
Ich hoffe, die KUE wird auch im Frühlingssemester 2021 die Jugendlichen in diesem Sinne befähigen, mündig zu werden.
Martin Zimmermann
PS: Falls Sie das schöne Porträt unserer BG-Lehrerin Sandra Kühne noch nicht gesehen haben, empfehle ich Ihnen ganz herzlich diesen Link:
www.diezuerchermittelschulen.ch/menschen/weltenwanderin-kuenstlerin-sammlerin