Ein (Ent)Wurf für die Zürcher Gymnasien
Wir können nicht voraussehen, welches Wissen und welche Kompetenzen die Jugendlichen von heute in der Zukunft brauchen werden. Mit dieser etwas ernüchternden Botschaft dämpfte der Zukunftsforscher Jacub Samochowiec die Erwartungen der Lehrpersonen der KUE, die an der Retraite seinem Vortrag über «Future Skills» folgten. Nur eines sei sicher: Egal, welches der von ihm skizzierten (teilweise apokalyptischen) Szenarien eintrete, die Menschen der Zukunft müssten besonders flexibel und anpassungsfähig sein. Seine Studie hält am Ende dann aber doch Kompetenzen fest, die für die Gestaltung einer Welt der Zukunft notwendig seien. Dazu gehören Grundlagenwissen und Wissen über Werkzeuge, mit denen man sich neues Wissen aneignet, die Bereitschaft, neue Ideen zu entwickeln, organisatorische Fertigkeiten und soziale Kompetenzen.
Auch die Projektgruppe des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes, die die neuen Schwerpunktfächer für den Kanton Zürich entwickelt und in dieser Woche veröffentlicht hat, hat sich gefragt, welches Wissen und welche Fertigkeiten «in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden». Den Umgang mit Veränderungen nennt die Gruppe aus Vertreter:innen aus Hochschulen, Mittelschulen, Wirtschafts- und Zukunftsforschung in ihren Überlegungen ebenfalls zuallererst. Aufgezählt werden dann aber zum Beispiel auch Nachhaltigkeit, digitale Transformation, gesellschaftliche Teilhabe und Diversität, das kritische Denken und die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Gruppe hat den Versuch gewagt, die zwölf neuen Schwerpunktfächer entlang dieser Themen zu entwerfen. Sie heissen zum Beispiel «Prozesse in der Umwelt» (beteiligt sind Chemie, Biologie und Physik), «Nachhaltige Gesellschaft» (Geografie, Wirtschaft, Recht) oder «Kommunikation und Medien» (Deutsch, Englisch, Psychologie). Sie sind auf interdisziplinäre Fragestellungen ausgerichtet und mehreren Fächern zugeordnet, müssen also von mehreren Lehrpersonen unterrichtet werden. Weitere Leitlinien sind eine verstärkte Anwendungsorientierung und die Studierfähigkeit, also die Vorbereitung auf die Arbeitsweise an den Hochschulen. Wichtig war bei der Entwicklung auch, dass die Schwerpunktfächer thematisch breit aufgestellt sind, die Schüler:innen also echte Wahlmöglichkeiten haben.
Besonders erfreulich ist, dass diese Leitlinien den Anliegen der Schüler:innen entsprechen, die vor ungefähr zwei Jahren von der Bildungsdirektion des Kantons Zürich zum «Gymnasium von morgen» befragt wurden. Die im Vorlauf des Projekts WegZH erarbeitete Wunschliste der Schüler:innen hatte mich beeindruckt, weil ich die Anliegen so reif und weitsichtig fand. Nun fiel mir der Bericht dazu wieder ein, als ich in dieser Woche die Vorschläge für die zukünftigen Schwerpunktfächer las. Jugendliche wünschen sich Orientierung in einer als zunehmend komplex wahrgenommenen Welt. Für ihre Ausbildung am Gymnasium vertrauen sie dabei auf eine möglichst breite Allgemeinbildung, sie möchten aber Wahlmöglichkeiten haben, um ihre Interessen zu vertiefen. Sie möchten das Gelernte auf die eigene Lebenswelt beziehen können. Sie wollen Theorie mit Praxis verbinden, um Anwendungsmöglichkeiten des Gelernten zu kennen. Sie möchten projektartig arbeiten, um zu lernen, wie man sich organisiert. Und sie wünschen sich interdisziplinäre Verknüpfungen, um Themen möglichst ganzheitlich angehen zu können.
Der Abschied von den Profilen, die seit 1995 an den Zürcher Mittelschulen unterrichtet werden, bedeutet einen radikalen Umbruch. Der Kanton Zürich nimmt mit seiner Vorlage die im August in Kraft getretenen nationalen Vorgaben (MAR/MAV) ernst und versucht gleichzeitig eine Vereinheitlichung der Mittelschulen zu erreichen. Ob das möglich ist und wie die Vorschläge an den Schulen umgesetzt werden können, ist noch offen. Die Schulen dürfen sich nun zu den Schwerpunktfächern und den weiteren Neuerungen äussern und Vorschläge einbringen. Es wäre schön, wenn auch in der Umsetzung die Vorstellungen der Schüler:innen für ein Gymnasium von morgen erhalten bleiben.
Eugenie Bopp
WB_48_24