Ehemalige
Diese Frau kenne ich doch, dachte ich, als ich die Zeitung öffnete und ein grosses Porträt sah. Ja, das ist eine ehemalige Schülerin, Maturjahrgang 2000. Heute ist sie CEO eines grösseren Unternehmens.
Diesen Mann kenne ich doch, dachte ich, als ich zufällig in einer Angelegenheit mit einer Person am Telefon sprach. Ja, ein ehemaliger Schüler, den ich zwar nie unterrichtete, aber als Schulleiter kennenlernte. Heute arbeitet er in einer angesehenen Praxis.
Beide Jugendliche gingen in ihrer Schulzeit durchaus eigene Wege und gerieten ab und zu in Konflikte mit Lehrpersonen. Trotzdem – oder vielleicht deshalb – haben sie ihren Platz im Leben gefunden.
Solche Begegnungen mit Ehemaligen hat man als älterer Lehrer immer wieder. Sie machen Freude, weil sie bestätigen, dass wir in einem sinnvollen Beruf sind.
Der Sinn unseres Tuns ergibt sich häufig in Auseinandersetzungen mit Jugendlichen. So sieht es wohl auch die Publizistin Marina Weisband, die von der Schule fordert, dass die Jugendlichen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten bekommen.
Mit ihrem Projekt Aula ("ausdiskutieren und live abstimmen") will sie Demokratie- und Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen. Sie begleitet Jugendliche, die Ideen entwickeln, diskutieren und die Bedingungen für deren Realisierung schaffen. Dabei erleben die Schüler:innen gelegentlich auch, wie kompliziert politische Vorgänge sein können, ganz im Sinne des Diktums, nach dem Politik das "starke langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass" sei.
Bei enttäuschenden Erfahrungen darf es aber nicht bleiben. Gerne ritzen wir aus diesem Grund manchmal Reglemente und ermöglichen, dass Projekte von Schüler:innen tatsächlich zu Ende geführt werden können. Wenn wir wollen, dass die Jugendlichen Neues ausprobieren, darf das Alte nicht absolut gesetzt sein. Alles darf in Frage gestellt werden, sicher allfällige Bretter vor dem Kopf.
Auch deshalb hat mich eine weitere Aussage von Marina Weisband betroffen gemacht. Sie zitiert einen Schüler, dem sie im Rahmen ihres Aula-Programms begegnet ist: "Kritisches Denken ist in der Schule gefordert, aber nicht erwünscht."
Wenn das die Wahrnehmung der Jugendlichen ist, haben wir als Institution versagt. Widerspruch (z.B. gegen Lerninhalte) und Veränderungswünsche (z.B. im organisatorischen Bereich) mögen für uns mühsam sein, aber wenn sie "mit Leidenschaft und Augenmass" vorgebracht werden, wollen wir sie ernst nehmen.
Das stärkt die Jugendlichen, und in 25 Jahren werden sie als Ehemalige ihren Lehrer:innen irgendwo begegnen und ihnen Freude bereiten.
Martin Zimmermann
Wochenbrief_2419