Die Logik hinter der Fächerlogik

Wann ist ein Fach ein Fach? – Überlegungen zu Fächerkanon und Schulentwicklung im aktuellen Wochenbrief.

Das Rückgrat des gymnasialen Unterrichts in der Schweiz liegt in seiner Orientierung an den Fächern. Die Lehrpersonen sind – anders als in vielen Ländern – in ihrem Selbstverständnis Mathematikerinnen, Romanisten, Physikerinnen. Daraus ergibt sich das hohe fachliche Niveau und die frühe Ausrichtung auf das, wie die Hochschulen weiterarbeiten. Das Herzblut der Lehrkräfte empfängt von daher seine Impulse: Man will in seinem Fach möglichst weit kommen, in die Tiefe gehen können, viele Türen öffnen, das Grundsätzliche zeigen. Und man versucht, den Kontakt zu den aktuellen Entwicklungen des eigenen Faches nicht zu verlieren. Dass diese Konzentration auf die Fachinhalte funktioniert, liegt auch in der tiefen Maturand*innenquote und der relativ homogenen sozialen Herkunft begründet: Die Binnenunterschiede zwischen den Leistungen der einzelnen Schüler*innen sind in der Regel so gering, dass man sich das leisten kann. Damit hängt dann auch das Versprechen auf die Allgemeine Hochschulreife zusammen, das zumindest auf dem Papier noch gemacht wird.

Die Orientierung an den Fächern stellt aber auch ein Hindernis dar. Der Kanon ist erstens erstaunlich konstant über die Jahrzehnte, ja sogar über die Jahrhunderte. Was einmal seinen festen Platz hat, lässt sich kaum mehr vertreiben. Neue Fächer haben es schwer, weil sie das feste Gefüge der Stundentafeln durcheinanderbringen. Das geschieht aktuell auch bei der vom Bund verordneten Einführung der Informatik. Man muss sich überlegen, welche Fächer Lektionen abgeben müssen. Zweitens stimmt die Fächerauswahl nicht mehr mit der Situation an den Hochschulen überein: Die Spezialisierung der Wissenschaften weichen die traditionellen Aufteilungen auf. Und drittens: Viele Probleme liegen quer zu den Fächern. Wer von realen Fragestellungen ausgeht, stösst mit der Einzellogik der Fächer schnell an Grenzen. Deshalb die Forderung, die Mittelschule müsse interdisziplinärer und kompetenzorientierter werden. Die Fokussierung auf die Fachinhalte führt viertens mit der Zunahme des Fachwissens tendenziell zu einer permanenten Verdichtung der Programme. Das produziert einen Druck, und dieser lastet letztlich auf den Schüler*innen. Und immer mehr in kürzerer Zeit zu wollen führt oft zu einer Didaktik, die wenig nachhaltig ist.

Verschiedene KUE-Arbeitsgruppen haben in den letzten Wochen Vorschläge zur Anpassung der KG-Stundentafeln ausgearbeitet. Ausgangspunkt war die eidgenössische Vorgabe, der Informatik Platz einzuräumen. Aktuell liegen zwei, drei Vorschläge auf dem Tisch – von einer minimalinvasiven Anpassung bis zu einem grösseren Eingriff. Bei ersterem steht vor allem die Überlegung im Zentrum, jetzt, da sich eidgenössisch und kantonal so viel verschiebt, zu warten, bis sich weitere Vorgaben herauskristallisiert haben. Bei letzterem soll die Gelegenheit genutzt werden, nicht nur kosmetische Anpassungen vorzunehmen, sondern wirkliche Akzente zu setzen. Diese haben zum Teil mit der Gewichtung der Fächergruppen zu tun, vor allem aber sollen den Schüler*innen im letzten Jahr mehr Wahlmöglichkeiten eingeräumt werden, vor allem in Bezug auf spezialisiertere Angebote.

Es ist schön, dass wir die Auseinandersetzungen im Kollegium zunehmend wieder live führen können. Das Engagement, das man in den Diskussionen spürt, hat mit dem erwähnten Herzblut fürs eigene Fach zu tun. Gleichzeitig geht es immer darum: Wie kann das Gymnasium sein Niveau bewahren und sich von den erwähnten negativen Effekten befreien? Wie kann es sozial durchlässiger werden? Woran sollen wir uns orientieren, wenn wir Schulentwicklung auch als Transformation dieser Fächerfixierung verstehen müssen? Wie Gefässe schaffen, in denen Interdisziplinäres Raum haben kann? In denen nicht von Inhalten, sondern von Problemstellungen ausgegangen wird? Wie Freiräume schaffen, in denen an grösseren Projekten gearbeitet werden kann oder sog. 21st Century Skills im Fokus stehen? Auf Kosten von wem und von was?

Jürg Berthold

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