Ist die Schweiz gespalten? Im Rahmen der gesellschaftspolitischen Themenwoche haben sich die Abschlussklassen der KUE fünf Tage lang intensiv mit dem Thema Polarisierung befasst. Die Schweiz gilt als Paradebeispiel für eine konsensorientierte Demokratie. Aber ist das tatsächlich so?
Durch die Konkordanz sind die Schweizer Parteien darauf angewiesen, im Parlament Kompromisse auszuhandeln, mit welchen die Mehrheit einverstanden ist. Das zwingt Politiker:innen zusammenzuarbeiten und motiviert die Mitglieder der Parteien, einen anständigen zwischenmenschlichen Kontakt zueinander zu pflegen. Kombiniert mit der grossen Parteienlandschaft der Schweizer Regierung und deren proportionalen Repräsentation im Parlament könnte man meinen, die Schweiz wäre das Musterbeispiel für eine demokratische Ordnung ohne Polarisierung. Doch der Schein trügt. Tatsächlich ist die Schweiz eines der polarisiertesten Länder der westlichen Welt. Das liegt vor allem an der SP und der SVP, wie die Zürcher Professorin für Politikwissenschaft Silja Häusermann in ihrem Referat ausführte. Die beiden grössten Parteien der Schweiz bilden zugleich auch die beiden politischen Pole: Links und Rechts. Und das sowohl in der Schweiz wie auch in ganz Westeuropa: Dort ist die SP im Vergleich eine der linksten und die SVP eine der rechtesten Parteien.
Das haben wir während der Themenwoche zu spüren bekommen, vor allem bei den hitzigen Debatten zwischen Susanne Brunner (SVP) und Hanspeter Göldi (SP). Brunner erhob beispielsweise energischen Einspruch bei Göldis Ausführungen zu der AHV-Krise. Göldi wiederum konnte sich mit Brunners Idee, der Klimakrise mit dem Bau von neuen AKWs zu begegnen, gar nicht anfreunden.
Nicht nur bei diesen Themen kamen die beiden Politiker:innen auf keinen gemeinsamen Nenner, mehrfach kam es zu starken Meinungsverschiedenheiten. Und das ist auch unsere Wahrnehmung der Parteien: SP und SVP können sich nicht einigen. Trotz Überspitzungen und provokativen Formulierungen in Kampagnen und im Wahlkampf müssen sie aber sowohl auf Kantons- als auch auf Bundesebene oft die Regierung gemeinsam mit anderen Parteien bilden. Wie können so demokratisch Entscheidungen getroffen werden? Ist die Bevölkerung der Schweiz weniger gespalten, ist der Konsens dadurch möglich?
Auch durch die sozialen Medien kann schnell der Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft entstehen. In Kommentaren unter Posts mit politischen Themen herrscht keinesfalls das Klima einer gesunden Diskussionskultur. SRF beispielsweise wird unter einem Post über die Effizienz von ÖV und Autos vorgeworfen, linksgerichtete Propaganda zu verbreiten. Derartige Vorwürfe findet man immer mal wieder unter Posts zu polarisierenden Themen. Daneben in grosser Zahl auch Beleidigungen als absolut formulierte Wahrheiten und Diffamierungen der Gegenseite. Raum für moderate Meinungen scheint keiner zu sein. Wir scheinen eine Entweder-Oder-Gesellschaft zu sein.
Sind wir diesbezüglich zu sehr von unserem digitalen Leben geprägt? Im Alltag hat man vielleicht einmal eine Diskussion mit Kolleg:innen oder den Verwandten, aber generell werden politische Themen eher vermieden, es sei denn, man ist gleicher Meinung oder diskutiert gerne. Warum sich zerstreiten, wenn es doch ganz gut klappt, friedlich nebeneinander zu leben, selbst wenn der eine SP und der andere SVP wählt.
Bei den Wähler:innen aber auch bei den Politiker:innen der verschiedenen Parteien scheint dies zu funktionieren. Die Vertreter der Parteien, welche an der KUE für eine Podiumsdiskussion anwesend waren, sagten, dass sie miteinander einen kollegialen Umgang pflegen, auch wenn sie ihre eigene politische Agenda verfolgen. «Politiker brauchen Apéros», sagte Benno Scherrer von der GLP. Miteinander auszukommen ist wichtig für die Schweizer Parteien, denn darauf kommt es bei Entscheidungsprozessen an.
Uns Schüler:innen der sechsten Klasse fällt es schwer, uns einer Partei definitiv zuzuordnen. Nach dieser Themenwoche äusserten viele unserer Mitschüler:innen, dass sie sich zwar auf dem Links-Rechts Spektrum verorten, aber mit den Stellungen der Parteien nie zu 100% identifizieren können. Das hat uns zum Nachdenken gebracht: Braucht es neue Parteien? Sollten wir uns einfach mehr engagieren, um die Politik und die Parteien von innen zu verändern und nach unseren Wünschen zu gestalten? Oder braucht es doch einen «Zukunftsrat» als dritte Kammer neben National- und Ständerat, so wie es Andreas Spillmann vorschwebt?
Vielleicht ist genau das Politik: das ständige Aushandeln solcher Fragen.
Dina Guggenheim (6b) und Sarah Kirsch (6b)
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