Man kann es kaum mehr glauben: Von August 2018 bis Februar 2020 verabschiedeten sich die meisten Schülerinnen und Schüler der Kanti Uetikon am Ende der Lektion per Handschlag von ihren Lehrerinnen und Lehrern. Als Lehrer einer digitalen Schule war (und bin) ich meist schon während der Pause im Zimmer, um den Gerätepark bereitzustellen, so dass es einigen Schülern passend schien, mich auch vor der Stunde per Handschlag zu begrüssen, wie sie es vermutlich von der Primarschule her gewohnt waren. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, dass sie damit die ursprüngliche Bedeutung des Handschlags zum Ausdruck bringen wollten: «Siehe, ich bin unbewaffnet, ich führe nichts Böses im Schilde», aber sie signalisierten damit: «Ich bin wach, ich bin rechtzeitig hier und ich bin bereit, mich auf das Thema der bevorstehenden Lektion einzulassen». Das ist nicht wenig.
Am 29. Februar 2020 schrieb der Rektor an alle Schulangehörigen: «Die öffentlichen Diskussionen um das Coronavirus sind intensiv im Gange. Aus unserer Sicht ist es richtig, wenn wir die Empfehlungen der Fachleute ernst nehmen. … Wir bitten auch darum, vorläufig auf das Händeschütteln zu verzichten. …»
Seit mehr als anderthalb Jahren sind Begrüssungen und Verabschiedungen per Handschlag tabu. Das ist schade.
Die Bedeutung des Handschlags geht weit darüber hinaus, dass er der Lehrerin hilft, sich beim Eintrag der Absenzen besser zu erinnern, wer anwesend war und wer nicht oder dass er es ihr erleichtert, in einer neuen Klasse die Namen der Schülerinnen und Schüler schnell zu lernen.
Lernen findet nicht im leeren Raum statt: Lernen ist immer auch eine Angelegenheit der Beziehung zwischen Schüler und Lehrer. Der Handschlag bekräftigt und erneuert diese Beziehung. Er ist ein Zeichen der Wertschätzung und zeigt zum Beispiel, dass man die einzelne Schülerin oder den einzelnen Schüler als Individuum wahrnimmt und nicht nur als ein Mitglied der Klassengemeinschaft. Man blickt einander in die Augen. Es kann mit jedem Einzelnen einen kurzen Austausch geben, in Form eines Lobes, einer Anregung, einer Ermunterung, einer Rückmeldung, einer Frage oder einfach mit einem Wunsch für einen guten Tagesverlauf. Auch eine Schülerin, die in der Lektion nicht bei der Sache war, unnötig geschwatzt hat oder geträumt, schüttelt zum Abschied die Hand, setzt damit einen Schlusspunkt unter die Lektion und nimmt sich vielleicht vor, es in der nächsten Stunde wieder besser zu machen.
Durch die regelmässige persönliche Verabschiedung am Ende der Lektion entsteht eine grössere Vertrautheit und Nähe zwischen Schüler und Lehrer als ohne sie, was man während des Lockdowns gemerkt hat: Die Betreuung der Schülerinnen und Schüler, die ich bereits drei Semester lang unterrichtet hatte, war spürbar einfacher als diejenige der Schüler, die erst im Sommer vor Corona in die Schule eingetreten waren. Der Aufbau einer tragenden Schüler-Lehrer-Beziehung braucht Zeit. Noch deutlicher war das im vergangenen Schuljahr zu spüren: Nicht nur gab es keine Verabschiedungen per Handschlag, nein, alle mussten ihre Gesichter zudem hinter Masken verstecken, was eine gewisse Distanz erzeugte und eine für alle unvertraute Unterrichtssituation, an die man sich zunächst gewöhnen musste, so dass es länger als üblich dauerte, bis sich ein Gefühl des «man kennt und vertraut einander» einstellte.
Es ist unbestritten, dass eine gute Schüler-Lehrer-Beziehung wichtig ist für erfolgreiches Lehren und Lernen. Eine gute Beziehung wird getragen von gegenseitigem Vertrauen und gegenseitigem Respekt. Wer sich ernstgenommen fühlt, ist besser motiviert und leistungsbereiter als jemand, dem es an der Schule nicht wohl ist. Es ist völlig klar, der Handschlag ist nicht das einzige Mittel, um eine Vertrauensbeziehung zu fördern. Aber in der heutigen Zeit, scheint es mir angezeigt, für ihn eine Lanze zu brechen. Mögen die Virologen auch den Kopf schütteln, ich hoffe dennoch, dass Händeschütteln bald nicht mehr als Angriff auf die Gesundheit des andern interpretiert wird, sondern als ein Zeichen der Wertschätzung, wie wir es aus Vor-Corona-Zeiten kennen.
Markus Egli
Mathematikerlehrer
Wochenbrief_2139