Wieder einmal steht eine wichtige Chemie-Prüfung an. Ich verstehe das Thema nur schlecht und die einzige Lösung ist, dass mein Grossvater, der vor rund sechzig Jahren in Chemie und Physik seine Doktorarbeit geschrieben hat, es mir erklärt. Ich setzte mich also neben ihn und er fängt an, meinen Unterrichtsstoff durchzulesen. Nach einiger Zeit schaut er mich an und fragt, ob ich sicher sei, dass dies an der Prüfung gefragt werde. Ich bejahe, und er sieht mich entsetzt an. Das, was in meinen Unterlagen steht, habe er im zweiten Jahr seines Studiums gelernt. Ich schaue ihn an und frage mich, wie das sein kann, dass wir mit unseren fünfzehn, sechzehn Jahren ein Thema dieser Komplexität behandeln und beherrschen müssen, während mein Grossvater dasselbe mit zweiundzwanzig Jahren im Studium gelernt hat.
Dieses Beispiel zeigt sehr gut, dass heutzutage immer mehr von jungen Schüler*innen erwartet wird. Sie stehen unter einem enormen Druck, sich diesen komplexen Stoff anzueignen und an den Prüfungen gute Noten zu schreiben, um dadurch ihre schulische Laufbahn fortzusetzen und nicht die Schule verlassen zu müssen. Und im Gegensatz zum Studium, bei welchem man sich auf ein, zwei oder drei Themen, wie zum Beispiel die Chemie, fokussiert, gibt es im Gymnasium mehr als ein Dutzend Fächer, welche man verstehen muss. Diese Vielzahl an wichtigen Fächern, in welchen relevante Prüfungen geschrieben werden, führt dazu, dass die Schüler*innen sich den Stoff in den Kopf stopfen und an der Prüfung alles wieder «hinauskotzen». Das heisst, das Gelernte bleibt nur im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und kann somit nicht im späteren Leben angewendet werden, weil es schlicht und einfach vergessen wurde.
Um noch einmal auf das obige Beispiel zurückzukommen: Ich finde, dass in der Schule, egal, welche Art von Schule, sei es ein Gymnasium, eine Berufsschule etc., nicht zu schnell von einem Thema zum nächsten gesprungen werden sollte. Es sollte lieber ein Thema länger, tiefgründiger und ausführlicher behandelt werden, so dass es im Gedächtnis gespeichert wird. Denn nur so kann das Gelernte für längere Zeit im Leben präsent sein.
Pauline, 16 Jahre
PS Die Deutschlehrerin Lisa Hurter hat die Schüler*innen einer Klasse über Schule nachdenken lassen und das Format des Wochenbriefs aufgegriffen. Martin Zimmermann und ich haben diesen Beitrag von Pauline ausgewählt, weil wir die Beobachtungen und die Kritik an bestimmten Aspekten des Unterrichts für sehr wichtig halten.
Jürg Berthold
Wochenbrief_21_35