„Entschuldige bitte, dass mein Brief so lange geworden ist; ich hatte keine Zeit.“ Diesen Satz soll Karl Marx an seinen Freund Friedrich Engels geschrieben haben. Ich bin auf ihn gestossen in Katja Lange-Müllers Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem schönen Titel „Das Problem als Katalysator“ (2018). Die Schriftstellerin geht darin der Frage nach, was sehr gute Literatur auszeichnet. In ihr ist kein Wort zu viel. Sie wird von einem existentiellen Problem angetrieben und ist in diesem Sinne dringlich. Und sie ist Konzentrat von Erfahrungen. Das sind drei Aspekte, die in dem schmalen Büchlein herausgearbeitet werden. „Literarische Texte dieser Qualität nannte und nenne ich etwas flapsig, doch voller Bewunderung Brühwürfel, weil auch sie so etwas sind wie kompakte Extrakte aus besten Ingredienzien, die erst der Leser sich nach Laune und Geschmack verdünnen, also verwässern mag, falls er sie pur nicht verträgt“ (S. 23). Begegnet man solchen Texten, können sie zu «Lotsenfischen» werden, um ein ganz anderes, aber ebenso schönes Bild zu zitieren. Sie helfen uns, den Weg zu finden, und sind Teil von dem, was man Orientierungswissen nennt.
An einem Gymnasium wie der KUE lernen die Schülerinnen und Schüler, was sie schon seit der Primarschule können, nämlich lesen. Und zwar zunächst im wörtlichen Sinne: Sie lernen, dass man dichte Texte langsam und mehrmals und dass man zwischen den Zeilen lesen muss. Sie lernen, dass man Unverständnis und Irritation aushalten können muss und dass nicht nur der Wortschatz und der Satzbau, sondern auch die Gedankenwelt eines Textes fremd sein kann. Sie lernen, andere Blickwinkel einzunehmen, Argumente abzuwägen, Beurteilungen vorzunehmen, Stellung zu beziehen.
Aber auch im übertragenen Sinne wird die Welt durch die unterschiedlichen Fächer lesbar gemacht. So lernen sie die Wirklichkeit in der Sprache der Mathematik zu lesen oder in jener der Naturwissenschaften. Über ein Thema in der Sprache des Rechts zu sprechen heisst etwas anderes als wirtschaftliche Überlegungen anzustellen oder die Welt mit künstlerischem Blick wahrzunehmen. Und Franzosen benutzen für «Brot» nicht nur ein anderes Wort, sie denken auch an etwas anderes, weshalb es im Fremdsprachenunterricht stets um mehr als um kommunikative Fertigkeiten geht.
Wir wünschen uns, dass die Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit vielen Brühwürfeln und Lotsenfischen begegnen. Dass sie erfahren, was ihnen an Substantiellem und Richtungsweisendem gezeigt wird und dass sie das mit ihrem eigenen Leben verbinden können. Sie sollen uns herausfordern mit der Frage, wozu sie etwas lernen, und sich nicht damit zufriedengeben, etwas sei durch den Lehrplan vorgeschrieben. Wir wünschen uns aber auch, dass sie verstehen lernen, warum der unmittelbare Nutzen nicht die einzige Antwort auf diese Frage sein kann.
Jürg Berthold, Prorektor
PS: Lange-Müller nennt viele Beispiele von Brühwürfeltexten, von umfangreichen Romanen wie Hermann Melvilles „Moby Dick“ bis zu Miniaturen vom „Maître des Brühwürfels“, Johann Peter Hebel. Lesen Sie den kurzen Text „Unverhofftes Wiedersehen“ und begeben Sie sich auf eine Zeitreise durch ein ganzes Leben und ein halbes Jahrhundert.
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