Bisweilen wird Lernen mit dem Packen eines Rucksacks verglichen. Man bereitet sich auf eine Reise vor, indem man sorgfältig überlegt, was man brauchen wird. Ähnlich in der Schule: Je grösser der Rucksack ist, desto weiter wird man mit ihm kommen. Auch das lebenslange Lernen passt in diese Logik: Von Zeit zu Zeit muss der Rucksack nachgefüllt werden.
Aber passt der Vergleich wirklich? Die Bildlogik ist rein quantitativ: Wer das Privileg hat, länger in die Schule zu gehen, der verfügt über einen grösseren Rucksack. Dabei weiss jeder, dass man auch zu viel einpacken kann. Mit dieser Verengung auf die Quantität hängt ein zweiter blinder Fleck zusammen: Wer an einen Rucksack denkt, denkt an isolierte Gegenstände. Gute Bildung zeichnete sich aber gerade durch ihre Kohärenz aus. Und noch eine dritte schiefe Analogie: Einen Rucksack können wir jederzeit ablegen, sein Inhalt bleibt uns äusserlich. Anders beim Lernen: Was wir lernen, prägt uns. Wir werden zu denen, die wir sind, durch das, was wir an Bildung erfahren. Bildung betrifft die Ziele, die wir uns setzen, nicht nur die Mittel, um vorgegebene Ziel zu erreichen. Es ist, als müssten wir den Weg ändern je nachdem, was im Rucksack ist. Und es ist, als würde der Rucksack auch noch die Landschaft transformieren können! Wer hätte nicht erlebt, dass er durch die Begegnung mit einer Lehrperson, durch die Konzepte eines Faches oder durch die Lektüre eines Buches die Welt auf andere Art zu sehen lernt?
Im letzten Jahr ist eine bemerkenswerte Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts zu «Future Skills» erschienen. Für das Jahr 2050 werden mit Blick auf eine Zukunft, die wohl anders verlaufen wird als «weiter wie gehabt», im Sinne von «Eckpunkten eines Möglichkeitsraumes» vier Szenarien entworfen. Die 80 Seiten seien hiermit mit Nachdruck zur Lektüre empfohlen. Interessant sind die vier Zukunftswelten. Die Szenarien reichen von der hellen-unheimlichen Welt mit «vollautomatisiertem KI-Luxus», über ein «Netto-Null-Szenario» mit einschneidenden Einschränkungen und ein «Gig-Economy-Prekariat»-Szenario mit einem Heer digitaler Tagelöhner in einer durchökonomisierten Welt bis zu einem «Kollaps-Szenario», in dem es nur noch lokale Gemeinschaften gibt, die ums Überleben kämpfen. Bezüglich all dieser Zukunftsbilder wird dann gefragt, welche «Skills» in ihnen verlangt wären. Mit Blick auf das aktuelle Schulsystem ist das Fazit der Studie ebenso klar wie vernichtend: Wie auch immer sich die konkrete Situation um das Jahr 2050 darstellen wird, die Schule bereitet ungenügend darauf vor.
So interessant die präsentierten Überlegungen sind, es stellt sich doch die Frage, ob wir es beim Ausdruck «Future Skills» nicht mit einer Neuauflage des Rucksackmodells von Bildung zu tun haben. Die verlangten Skills unterscheiden sich zwar wesentlich von Unterrichtsinhalten im traditionellen Sinne. So ist etwa von emotionaler Stabilität, von Gemeinschaftswerten und von praktischen Fähigkeiten bis hin zu Survival Skills die Rede ist. Trotzdem – so meine Vermutung – folgt das Setting der Vorstellung, dass es im Unterricht um Brauchbares gehen muss. Die Frage nach den «Future Skills» lockt uns damit genau in die Denkfalle, aus der die Antwort darauf befreien will.
Die Feststellung, dass die Zukunft in einem radikalen Sinne offen ist und der Spielraum zwischen den unterschiedlichen Szenarien so riesig ist, könnte uns auch zu einer anderen Schlussfolgerung führen: Es geht weniger um das Was als um das Wie. Wie können wir Unterricht so gestalten, dass die Inhalte nicht einfach weggepackt werden? Dass er prägend wirkt und als Bildungserfahrung die Menschen formt? Eine Schule, der es gelingt, den jungen Menschen Mut ins eigene Denken zu vermitteln, die sie neugierig macht und ihnen Hartnäckigkeit lehrt, an den Dingen dranzubleiben, eine solche Schule kann, so meine Überzeugung, zuversichtlich sein, dass die jungen Menschen für jede Zukunft vorbereitet sind. Von einer Reise in eine ungewisse Zukunft und einer Zuversicht spricht auch dieser Text von Franz Kafka.
«Ich befahl mein altes Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich wirklich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es dann. In der Ferne hörte ich eine Trompete laut blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim hölzernen Tore hielt er mich auf und fragte: "Wohin reitest du, Herr?" "Ich weiß es nicht," sagte ich, "nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." "Du kennst also dein Ziel?" fragte er. "Ja," antwortete ich, "ich sagte es doch: »Weg-von-hier«, das ist mein Ziel." "Du hast keinen Essvorrat mit," sagte er. "Ich brauche keinen," sagte ich, "die Reise ist so unendlich lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem langen Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.»
Jürg Berthold
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