«Bildung für alle!»

Warum das Bildungssystem zu wenig durchlässig ist. Mehr dazu im Wochenbrief.

Demonstrierende Studierende der Universität Zürich in den 1990er-Jahren. (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Ka-0001-092)

«Bildung für alle, sonst gibt’s Krawalle!» skandierten meine Freund:innen und ich an den Schulstreiks gegen die kantonalen Sparmassnahmen 2016 (Lü16). Auch wenn für das Gymi Sparpakete (noch) nicht unmittelbar bevorstehen, hat der Slogan nichts an Gültigkeit eingebüsst. Denn auch der Status quo ist ein bildungspolitischer Missstand. Die Türen zu Bildung und Wissen stehen nämlich nicht allen gleich weit offen.

Wir wissen dank der Berner TREE-Studie zur schweizerischen Bildungslandschaft (seit 2008), dass 38% der jungen Erwachsenen aus einem akademischen Elternhaus eine gymnasiale Maturität und 14% eine Berufsmaturität erlangen – während aus einem nicht-akademischen Haus nur 14% das Gymi abschliessen und 11% die Berufsmatur. Das ist auch nicht weiter überraschend: Eltern, die den langen Ausbildungsweg über Gymi/Uni ohne Lohn und klare Berufsbildung (kurz Schule-Schule-Schule) kennen, unterstützen ihre Kinder. Einige pushen ihren Nachwuchs sogar, auch wenn die Kinder vielleicht mehr Lust auf eine Lehre hätten, zunehmend auch mit privat finanzierter Nachhilfe. Auf der anderen Seite wirken sprachliche Barrieren für Kinder, die nicht mit der Amtssprache aufgewachsen sind, zusätzlich ausschliessend.

Die Verteidiger:innen des Bildungssystems Schweiz würden nun ins Feld führen, dass es ja Passerelle, Erwachsenenmatur und Fortbildungen gebe. Das stimmt. Das System ist wesentlich flexibler als noch vor 50 Jahren. Die Studie zeigt aber klar, dass der Lobgesang auf die Durchlässigkeit unseres dualen Bildungssystems nicht angebracht ist. Von den 30-jährigen Befragten haben 40% aus akademischen Haushalten einen Hochschulabschluss (Uni, ETH, Fachhochschule [!]) – mehr als doppelte so viele als von den 19% der 30-Jährigen aus einem nicht-akademischen Milieu. Die Unterschiede halten sich.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin überzeugt, dass ein Ausbildungsweg über Gymi und Uni nicht für alle der passendste – und schon gar nicht der einzig richtige ist. Es ist – hoffentlich – auch nicht nötig klarzustellen, dass jeder Person, mit oder ohne Lehre oder Hochschulabschluss genau das gleiche Ansehen und ein anständiger Lohn für Arbeit zusteht! Wir brauchen verschiedene Berufe in unserer Gesellschaft. Zudem kann eine Lehre konkrete Erfahrungen, hands-on, bieten, die auf dem Mittel- und Hochschulweg fehlen.

Die Studie zeigt aber eindeutig, dass der Bildungsweg von jungen talentierten Menschen nicht nur von ihrem Können, sondern massgeblich von ihrer Herkunft beeinflusst ist. Die Frage der Bildung ist eine Frage der sozialen und ökonomischen Herkunft. Das ist nicht gerecht. Das Bildungsbürgertum (Menschen mit Hochschulabschlüssen verdienen im Schnitt auch mehr) reproduziert sich in den gegenwärtigen Strukturen.

Dass nun auf der politischen Ebene die «Büetzerin» gegen die faulen «Akademiker» ausgespielt wird, ist dummes Gepolter. Es schürt absichtlich antiakademischen Widerwillen und eine gefährliche Ablehnung von Universitäten und wissenschaftlicher Forschung. Meist ist das Gepolter mit Sparforderungen im Bildungsbereich verbunden – und somit überhaupt nicht produktiv. Was wir dem entgegensetzen sollten, ist die Forderung nach einer radikalen Öffnung der Bildungssysteme für alle.

An Maturreden heisst es immer mal wieder, die Maturand:innen seien die Leader von morgen. Im gegenwärtigen System stimmt das. Dieses Privileg müssen wir verstehen und als politische Subjekte kritisch reflektieren. Mit einer Uni-Ausbildung in Informatik und Geschichte habe ich selbst profitiert. Damit sehe ich mich aber auch in der Pflicht, politische Arbeit zu machen und für eine solidarische Veränderung und Öffnung des Bildungssystem einzustehen.

Die gegenwärtigen Krisen können wir nur bewältigen, wenn wir uns als Gesellschaft bilden. Kritisch bilden. Über die Fächer, aber auch über die Berufe hinaus bilden. Naturwissenschaftlich bilden, aber auch geisteswissenschaftlich bilden. Die Türen zu einer solchen Bildung müssen allen offen stehen!

Sascha Deboni, Lehrperson für Informatik und Doktorand in Medizingeschichte
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