Auf die Jugendlichen hören

Warum die Schule, auch die KUE, mehr als ein Problem hat. Mehr dazu im neuen Wochenbrief!

«Um die psychische Gesundheit von Schweizer Kindern und Jugendlichen steht es so schlecht wie nie. Doch stimmt das wirklich? Wir haben bei Schweizer Teenagern nachgefragt – und sind erschrocken.» Mit dieser Einleitung beginnt die Porträtsammlung «Warum so traurig?», die das Magazin der NZZ am Sonntag vor einer Woche publiziert hat (12. 11. 2023, nicht allgemein zugänglich). Zwei der neun Texte verleihen Jugendlichen, die das Gymnasium besuchen, eine Stimme. Zwei von neun, das entspricht ziemlich genau der Maturand:innenquote im Kanton Zürich. Die Namen der beiden Gymnasiastinnen sind geändert; nur dass sie in St. Gallen und Zug zur Schule gehen, erfährt man. Die Jugendlichen, die eine Lehre machen, sind alle namentlich genannt, fünf mit Foto. Allein das gibt zu denken.

Was Anna und Enisa beschreiben, deckt sich. Da ist von Essstörungen, Panikattacken, Suizidgedanken, Ritzen die Rede – alles Dinge, die sie selbst erleben oder in ihrem Umfeld beobachten. Aber klar ist auch: «Im Unterricht thematisieren wir solche Sachen nie, die Lehrpersonen kriegen das gar nicht so mit», stellt eine der beiden 17Jährigen fest. Auch wenn die zwei anders mit diesen Themen umgehen, ist in beiden Texten von den Belastungen durch die Schule die Rede. «Abgesehen vom Gymistress geht es mir gut», sagt Enisa. Und Anna meint: «Jeden Tag geht es um Leistung.» Auch bei Dingen, die man eigentlich gerne mache, wie dem Instrument, das man lernt: «Es geht am Ende nur um den perfekten Ton.»

Während Enisa weiss, dass es «normal ist, manchmal traurig zu sein» und versucht, sich «nicht zu sehr mitreissen zu lassen», sieht Anna etwas Grundsätzliches: «Wenn ich höre, wir seien zu schwach für diese Welt, dann denke ich: Wer sagt uns, dass wir nicht zerbrechen dürfen? Vielleicht sind wir zu schwach geworden. Aber wer glaubt, dass diese Welt noch okay ist, ist einfach zurückgeblieben.»

Ich nehme bei Anna und Enisa drei Vorwürfe wahr, die wir als Schule ernstnehmen müssen. Der erste betrifft die Ignoranz: Uns Lehrpersonen entgeht so vieles, was wichtig wäre. Das hat zum einen systemische Gründe. Eine Lehrperson am Gymnasium hat bis zu 250 Schüler:innen, und es gibt auch in fortschrittlicheren Unterrichtsettings wenig Raum für Persönliches. Umso wichtiger wäre es, hellhöriger zu werden für Zwischentöne und mehr oder weniger laute Hilferufe. Die Klassenlehrpersonen erfüllen hier eine sehr wichtige Aufgabe, aber alle müssen wacher sein für Andeutungen aller Art.

Der zweite Punkt wiegt schwerer, für ihn gibt es keine Entschuldigung. Aber auch ihn übersehen wir Lehrpersonen oft, einfach obwohl oder viel mehr weil er mit uns selbst zu tun hat: Der Druck, unter dem die Schüler:innen stehen, ist real. Dafür gibt es, davon gingen die vier Journalistinnen aus, belastbare Fakten. Die Gründe sind vielfältig, und an der KUE sprechen wir auch schon seit den Anfängen darüber – im Kollegium, den Konventen und der Gesundheitskommission. Hartnäckig hält sich aber die Vorstellung in den Schulen, nicht nur an der KUE, wo wir Gegensteuer zu geben versuchen, dass Druck gut ist fürs Lernen, dass man auf ein forderndes Leben vorbereiten müsse, dass die Schule kein Ponyhof sei. Auch die Politik trägt eine Verantwortung, wenn sie despektierlich von Kuschelpädagogik spricht.

Der dritte Vorwurf hat mit etwas zu tun, dem sich die Schule – aus systematischen Gründen – nicht entziehen kann. Ja, vieles auf der Welt ist nicht im Lot, nicht erst seit gestern. Und es wäre seltsam, wenn das im Unterricht nicht immer wieder in den Fokus käme. Im Literaturunterricht beleuchten die Werke die menschlichen Abgründe, die Geschichtsbücher kann man an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und liest wenig Erbauliches. Die naturwissenschaftlichen Fächer geben nicht nur die Einblicke in die Naturgesetzlichkeiten, sie schärfen auch den Blick für die Probleme unserer Gegenwart. Diese Begegnungen mit den dunklen Seiten müssten aber eingebettet sein. Wir müssten Sorge dafür tragen, dass die Schüler:innen nicht daran zerbrechen. Sie sollen einen inneren Widerstand aufbauen und Strategien entwickeln im Umgang mit den grossen Fragen der Gegenwart. Die Augen zu verschliessen, sich wegzuklicken oder eskapistisch die Kante zu geben, sind keine guten Strategien. Ebenso wenig wie die blinde Fixierung auf die eigene Karriere. Resilienz, Empowerment, Achtsamkeit… das sind nicht umsonst zentrale Stichworte einer aktuellen Pädagogik – auch an der KUE.

Jürg Berthold

WB_47_2023