Argumentieren ohne Argumente?

Wie gesund ist der gesunde Menschenverstand? Gedanken dazu im aktuellen Wochenbrief.

Eine «revolution of common sense», eine «Revolution des gesunden Menschenverstandes», hat Donald Trump vor einer Woche bei seiner Video-Ansprache am WEF in Davos verkündet. Inhaltlich bezog er sich dann auf ganz Unterschiedliches. Letztlich auf alles, was er selbst für selbstverständlich hält. Wer sich auf den «gesunden Menschenverstand» bezieht, meint genau das: Dass eine Person, die bei Sinnen ist, gar nicht anders kann, als richtig und gut zu finden, was man selbst richtig und gut findet. Der Bezug auf den «gesunden Menschenverstandes» ist deshalb paradox: Es wird argumentiert mit dem Argument, dass es nichts zu argumentieren gibt. Dabei spricht man immer vom eigenen Verstand: Alle Seiten werfen ihren jeweiligen Gegnern dessen Fehlen vor. Die anderen sind krank, um im Bild zu bleiben, das zumindest im deutschen Ausdruck beschworen wird.

Macht man die Probe aufs Exempel und untersucht, welche Aussagen eine grosse Zustimmung erzielen, kann man sich wundern. Es sind offenbar sehr wenige Aussagen wirklich mehrheitsfähig, so jedenfalls das Ergebnis einer kognitionswissenschaftlichen Studie der University of Pennsylvania, über die die Süddeutsche Zeitung neulich berichtete: Von den insgesamt 4407 Aussagen, die 2046 Proband:innen vorgelegt worden waren, war nur eine sehr geringe Anzahl mehrheitsfähig. Und das, obwohl sie von einzelnen gleichzeitig als mehrheitsfähig eingeschätzt wurden.

Als in der Antike die Vorstellung einer allen Menschen gemeinsamen Basis aufkam, für die sich dann im Zeitalter der Aufklärung der Begriff common sense durchsetzte, hatte das etwas Revolutionäres: Von dem für alle Menschen postulierten Sinn versprach man sich eine gemeinsame Grundlage, um im Hin und Her der Argumente Halt zu finden und zu einer Verständigung zu kommen. Es sollte etwas geben, was allen Menschen gleichermassen zukommt, ein Sinn fürs Allgemeingültige. Dabei war dieses Postulat schon immer nicht die ganze Wahrheit: In seinem Schatten wurde der einen oder anderen Gruppe die volle Teilhabe an diesem Sinn abgesprochen: den Sklavinnen und Sklaven, den Frauen, den Kindern, um nur einige der Ausgeschlossenen zu nennen. Deshalb steht heute jeder Bezug auf diese Tradition einer «gemeinsamen Basis» im Verdacht, heimlich jene Ausschlussmechanismen zu wiederholen.

Wie soll man sich als Lehrperson in einer solchen Situation verhalten? Wie als Schule, wenn im Namen des Common Sense Ungeheuerliches formuliert wird und wenn Selbstverständliches nicht common sense ist? Wenn Dinge propagiert werden, die gegen unsere Lehrpläne oder den Stand der Wissenschaften verstossen? Wie sich positionieren, wenn auch das, was man selbst für selbstverständlich hält, nicht einfach vorausgesetzt werden kann? Seien es Anstand und Respekt im Umgang miteinander. Sei es die Akzeptanz von Regeln des Argumentierens, sei es das Bewusstsein, dass kontroverse gesellschaftliche Themen im Unterricht auch zur Sprache kommen müssen. Oder sei es gar etwas so Alltägliches wie die Sauberkeit auf den Toiletten oder die Sorgfalt im Umgang mit Mobiliar.

Sich auf den «gesunden Menschenverstand» zu beziehen geht offensichtlich nicht. Uns Lehrpersonen bleibt nichts anders übrig, als uns immer wieder auf das Gespräch, die Diskussion einzulassen. Die Auseinandersetzung zu suchen. Den Schüler:innen klarzumachen, wovon wir nicht abweichen wollen, und für unsere Anliegen einzustehen. Mit Argumenten und nötigenfalls mit Massnahmen.

Jürg Berthold

WB_06_2025

Abbildung: Kunsthaus Zürich, 2001. Ausschnitt aus einer künstlerischen Arbeit von Thomas Hirschhorn zu Davos.