In einem früheren Wochenbrief hat meine Schulleitungskollegin Karin Hunkeler das Buch In Search of Deeper Learning erwähnt. Seither lese ich regelmässig darin. Die Überlegungen darin finde ich je länger je inspirierender. Es geht darum, wie eine innovative Pädagogik aussehen müsste, durch die Schülerinnen und Schüler im Kontext der Digitalisierung von passiven Wissensempfängern zu aktiven Gestalter:innen ihres Lernens werden. Lehrpersonen, denen dieser Schritt gelingt – so Autor Jal Mehta und die Autorin Sarah Fine –, sprechen in Bezug auf ihre eigenen Lernbiografien von «seminal learning experience» (2019: 43), also von prägenden Erfahrungen des eigenen vertieften Lernens. Es ist bekannt, dass wir Lehrpersonen uns in unserer Unterrichtspraxis sehr stark an dem orientieren, was wir während der eigenen Schulzeit erlebt haben. Vor allem in Drucksituationen greift man auf die vermeintlich sicheren Strategien der Vorgängergeneration zurück. Hier geht es aber um das Gegenteil, nämlich um frühe Samen («seminal»), die auf fruchtbaren Boden gefallen sind und Jahre später Früchte tragen. Bei der Lektüre der einschlägigen Passagen habe ich mir zu vergegenwärtigen versucht, welche der eigenen Lernerfahrungen ich selbst im Hinblick auf einen Kulturwandel hin zum «deeper learning» prägend nennen würde. Die Zusammenstellung ist zufällig, sie sagt vor allem etwas über mich aus. Aber vielleicht regt sie an, über die eigene Schulzeit unter diesem Blickwinkel nachzudenken.
Ich hatte zwei ausserordentliche Lehrpersonen in Deutsch und Französisch; ihr Engagement für unsere Klasse war grenzenlos. Mit beiden blieb ich über die Matura hinaus freundschaftlich verbunden. Was sie neben dem pädagogischen Engagement auszeichnete, war ihre Leidenschaft für Literatur und Philosophie. Momente des vertieften Lernens erzeugten sie vor allem durch ein hartnäckiges Insistieren. Dass man bei der Deutung eines Textes noch weitergehen könnte, dass der Leseprozess noch lange nicht abgeschlossen sei. Und vor allem: dass der Text etwas mit dem eigenen Leben zu tun hatte. Das alles war didaktisch unspektakulär, es fand innerhalb eines traditionellen Klassenunterrichts statt, bei dem allerdings das Gespräch und nicht das Dozieren im Zentrum stand und man sich auf Augenhöhe begegnete.
Ich erinnere mich auch an eine Aufgabenstellung in Geografie. Es ging um den Assuan-Staudamm, der damals noch nicht lange in Betrieb war. Einen umfangreichen Text zu den unterschiedlichsten Auswirkungen dieses Megaprojekts sollten wir in eine Grafik übersetzen. Dies war in der 3. Klasse, und es handelte sich um einen Gruppenauftrag, der uns über einige Lektionen in Atem hielt. Dabei wurde mir – wie ich meine, zum ersten Mal im Leben – die Komplexität wechselseitiger Abhängigkeiten bewusst. In Erinnerung ist mir auch, dass es so viele unterschiedliche Visualisierungen wie Gruppen gab – und jede war eine berechtigte Lösung des gleichen Problems.
Ein Beispiel anderer Art: Im Freifach Altgriechisch, das ich einige Zeit besuchte, war auch unser Mathematiklehrer. Er mühte sich wie wir mit Vokabeln und Verbformen ab. Das beeindruckte mich. Dass es ihm, der im Mathematikunterricht stets wusste, wo es langging, nichts ausmachte, einer von uns zu sein und sich dem Nicht-Können auszusetzen, spornte mich an, mich in die Sache zu vertiefen. Noch heute inspiriert mich seine Offenheit, jetzt, da ich nur wenig älter bin, als er damals gewesen war.
Das Prägende in diesen Beispielen waren die Haltungen der Lehrpersonen. Ihre Leidenschaft, ihre Offenheit, ihre Begeisterung, ihre Neugier. Diese führten auf den unterschiedlichsten Ebenen dazu, dass etwas in Gang gesetzt wurde, was man mit dem Begriff von Metha und Fine als «deep learning» bezeichnen könnte. Auf den ersten Blick, so könnte man aus diesen Beispielen schliessen, scheinen Schulstruktur und Lernformen dabei nebensächlich zu sein. Die Autoren betonen deshalb, dass sie bei ihren Untersuchungen in allen Schulstrukturen einzelne Lehrpersonen gefunden hätten, die Freiräume zu nutzen wussten. Für den Aufbau der KUE gehen wir aber davon aus, dass sich in offeneren Strukturen, mit neuen Unterrichtsgefässen und mit einer erweiterten Unterrichtsdidaktik die gleichen Haltungen viel nachhaltiger prägend wirken können. Das Dranbleiben-Können lässt sich leichter organisieren, wenn man Zeitfenster und Unterrichtsräume hat, die das befördern. Das Konzept der sog. POOL-Tage ist ein Weg, auf dem wir das umsetzen. Das heisst aber nicht, dass es nicht von jeder einzelnen Lehrperson abhängt, ob etwas gelingt oder nicht.
Jürg Berthold
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